Gewerkschaftsmacht
“Szenarien eines unaufhaltsamen Niedergangs der Gewerkschaften suggerieren, die verschiedenen Quellen von Gewerkschaftsmacht würden mehr und mehr versiegen. … [Sicher schwächt] der transformierte Kapitalismus tradierte Formen von Arbeitermacht …, zugleich [bringt er] jedoch neue Machtquellen hervor …, die sich für eine Revitalisierung von Gewerkschaften nutzen lassen.”
“Arbeitermacht [kennt drei Quellen]:
[1)] Strukturelle Macht erwächst aus der Stellung von Lohnabhängigengruppen im ökonomischen System. Sie kann sich in primärer Verhandlungsmacht, die aus angespannten Arbeitsmarktsituationen entspringt, ebenso ausprägen wie in Produktionsmacht, die sich über eine besondere strategische Stellung von Arbeitergruppen im Produktionsprozeß konstituiert…” “Strukturelle Macht wird häufig spontan ausgeübt, sie tritt in Gestalt von … plötzlichen Unruhen auf, als informelle Sabotage oder Absenteismus.”
“[2)] Organisationsmacht [entsteht] aus dem Zusammenschluß zu kollektiven politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen … [Sie] ist … prinzipiell auf handlungsfähige Gewerkschaften angewiesen. …”
“[3)] Institutionelle Macht … wurzelt in dem Faktum, daß Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fixieren. … Institutionelle Macht kann, etwa von Gewerkschaften, auch in Phasen ausgeübt werden, in denen sich bereits eine Schwächung der Organisation abzeichnet. … [Das] setzt dann freilich voraus, daß die Gewerkschaften weiterhin als authentische Repräsentanten der Lohnabhängigen anerkannt werden.”
“Begünstigt durch die außergewöhnlich lange Nachkriegsprosperität, ging die gesellschaftliche Ausweitung und Verallgemeinerung von Lohnarbeit nach 1949 mit einer Tendenz zur Einhegung von Einkommens-, Armuts– und Beschäftigungsrisiken einher. … Die Integrationskraft des Sozialeigentums [reichte] aus, um einer Mehrheit der Lohnabhängigen den Anschluß an die Lebenstile der Mittelschichten zu ermöglichen.”
“[Seit den Neunziger Jahren ist man dabei,] die ‘Fixierungen’ der fordistischen Ära aufzulösen, und sie durch finanzkapitalistische zu ersetzen. … Normen und Funktionsprinzipien des weltmarkt- und gewinnorientierten Bereichs [werden] auf alle anderen Sektoren [übertragen].”
“Das Heer der ‘Arbeitnehmer zweiter Klasse’, der Niedriglöhner, befristet Beschäftigten, Leiharbeiter, Mini- und Midijobber, der ‘proletaroiden’ Selbstständigen und Existenzgründer … das in Deutschland inzwischen nahezu ein Drittel der Beschäftigten stellen dürfte … wirkt auf die Institutionelle Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wie ein aggressiver Virus auf ein geschwächtes Immunsystem.”
“Die strukturelle Schwäche organisierter Lohnarbeitsinteressen auf europäischer, inter- und transnationaler Ebene [geht] mit einer neuen Machtkonzentration an der Spitze grenzüberschreitend operierender Unternehmen einher. …”
“Die Fortsetzung einer Politik der Lohnzurückhaltung [würde gegenwärtig] nicht nur wirtschaftliche Ungleichgewichte und soziale Ungleichheit in Europa weiter verstärken; sie würde auch dem Partikularismus kleiner berufsorientierter Gewerkschaften (z:B. Lokführer, Fluglotsen, Ärzte), die vor allem strukturelle Arbeitermacht nutzen, Tür und Tor öffnen … Soll Zersplitterungstendenzen entgegengewirkt werden, müssen die Mitgliedsgewerkschaften den Trend zum Niedergang ihrer Organisationsmacht umkehren. …
[Am erfolgreichsten] bei der Mitgliederwerbung – auch bei prekär Beschäftigten, Migranten und Frauen – sind [jene Gewerkschaften], die sich stärker als soziale Bewegungen profilieren, eine intelligente Kampagneorientierung entwickeln, neue gesellschaftliche Bündnisse zur Stärkung ihrer eigenen Organisationsmacht nutzen und auch vor einer konfliktorischen Politik nicht [zurückschrecken].”
aus: Klaus Dörre, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007, S. 55-71, Zitate von mir etwas umsortiert.
[Dieser “social movement unionism” vereinigt “campaigning” und “organizing”.]
“Organizing bezieht sich auf das Verhältnis zur Basis: Auf der einen Seite konzentrieren sich [die] Organisationen … auf die Werbung neuer Mitglieder, vor allem unter Beschäftigten wie Migranten und Frauen – Gruppen, die früher als gewerkschaftsfern und ‘nichtorganisierbar’ galten. … Auf der anderen Seite werden die Mitglieder aktiv in die Kampagnenarbeit eingebunden, sind an der Entwicklung der Strategien mitbeteiligt und gehen im Notfall auch auf die Straße. …
Campaigning dagegen bezieht sich auf das Verhältnis zu den Unternehmen und die Strategien, die in Arbeitskämpfen zum Einsatz kommen. Das können Boykotts sein … aber auch aggressive Medienkampagnen. Dabei setzen die Bewegungsgewerkschafter auf breite Bündnisse mit der Zivilgesellschaft, auf Studenten, Kirchen und politisierte Verbraucher … Schließlich ist es wichtig, … die Probleme der Arbeitnehmer in einen weiteren, moralischen Rahmen zu stellen …”
aus: Geiselberger, Heinrich: Social Movement Unionism, in: ders. (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007, S. S.82-86.
01/08