Bravheit
“Noch eine allgemeine Bemerkung steht hier an der rechten Stelle, daß nämlich bei dem Emporwachsen der Kinder aus den gesitteten Ständen ein sehr großer Widerspruch zum Vorschein kommt, ich meine den, daß sie von Eltern und Lehrern angemahnt und angeleitet werden, sich mäßig, verständig, ja vernünftig zu betragen, niemandem aus Mutwillen oder Übermut ein Leids zuzufügen und alle gehässigen Regungen, die sich an ihnen entwickeln möchten, zu unterdrücken; daß nun aber im Gegenteil, während die jungen Geschöpfe mit einer solchen Übung beschäftigt sind, die von andern das zu leiden haben, was an ihnen gescholten wird und höchlich verpönt ist. Dadurch kommen die armen Wesen zwischen dem Naturzustande und dem der Zivilisation gar erbärmlich in die Klemme und werden, je nachdem die Charakter sind, entweder tückisch, oder gewaltsam aufbrausend, wenn sie eine Zeitlang an sich gehalten haben.
Gewalt ist eher mit Gewalt zu vertreiben; aber ein gut gesinntes, zur Liebe und Teilnahme geneigtes Kind weiß dem Hohn und dem bösen Willen wenig entgegenzusetzen. …”
aus: Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, Goethes Werke in zehn Bänden, achter Band, Zürich: Artemis 1962, S.78/79.
07/09