MALTE WOYDT

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Gegenwärtigkeit

“Die Realität ist die sinnlose Übertreibung aller Details, welche die Satire vor fünfzig Jahren hinterlassen hat. … Ein Blick in die neue Welt, … ein Atemzug in dieser gottlosen Luft von Allwissenheit und Allgegenwart zwingt zur vorwurfsvollen Frage: Was hat[te] Nestroy gegen seine Zeitgenossen? Wahrlich, er übereilt sich. Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre. … er erlebt die respektlose Intelligenz nicht, die da weiß, daß die Technik wichtiger sei als die Schönheit, und die nicht weiß, daß die Technik höchstens ein Weg zur Schönheit ist und daß es am Ziel keinen Dank geben darf und daß der Zweck das Mittel ist, das Mittel zu vergessen. … Wo das Talent dem Charakter Schmutzkonkurrenz macht und die Bildung die gute Erziehung vergißt. Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht. Wo alle Individualiät haben, und alle dieselbe, und die Hysterie der Klebstoff ist, der die Gesellschaftsordnung zusammenhält. … Kunst ist, was den Stoff überdauert. Aber die Probe der Kunst wird auch zur Probe der Zeit, und wenn es immer den nachrückenden Zeiten geglückt war, in der Entfernung zum Stoff die Kunst zu ergreifen, diese hier erlebt die Entfernung von der Kunst und behält den Stoff in der Hand. Ihr ist alles vergangen, was nicht telegraphiert wird. Die ihr Bericht erstatten, ersetzen ihr die Phantasie. Denn eine Zeit, die die Sprache nicht hört, kann nur den Wert der Information beurteilen. … Wie sollte sie, deren Gedächtnis nicht weiter reicht als ihre Verdauung, in irgendetwas hinüberlangen können, was nicht unmittelbar aufgeschlossen vor ihr liegt? … Die Organe dieser Zeit widersetzen sich der Bestimmung aller Kunst, in das Verständnis der Nachlebenden einzugehen. Es gibt keine Nachlebenden mehr, es gibt nur noch Lebende, die eine große Genugtuung darüber äußern, daß es sie gibt, daß es eine Gegenwart gibt, die sich ihre Neuigkeiten selber besorgt und keine Geheimnisse vor der Zukunft hat. Morgenblattfroh krähen sie auf dem zivilisierten Misthaufen, den zur Welt zu formen nicht mehr Sache der Kunst ist. Talent haben sie selbst …”

aus: Karl Kraus: Auswahl aus dem Werk. München: Kösel 1957, S.178-180.

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31/08/2009 (23:25) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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