Corona 2
“Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft. Man kann eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung ziehen. …
Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung. …
Die Belastungssymptome gehen in drei Richtungen. …
[1] nach innen … Angst- und Essstörungen und Depressionen. …
[2] nach draußen, … Aggressivität, … politisch extreme Haltungen. …
[3] Sucht als Ausweichstrategie, um sich Entlastung zu verschaffen … [auch] Verschwörungstheorie zum Beispiel, … Die gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, woran es liegt. Ich habe die Ursache gefunden … ich kenne den Schuldigen … ich kann also nichts tun. …
Nach dem Konzept der Salutogenese des Soziologen Aaron Antonovsky braucht der Mensch … drei Dinge …:
[1] das Gefühl … ich kann die Welt verstehen,
[2] dass … die Herausforderungen, die vor mir liegen, machbar sind,
[3] dass … es sich … lohnt, in die Zukunft zu investieren. …
Wenn dieses Gefühl Schaden nimmt, dann werde ich pessimistisch, glaube weder an mich noch an die Gesellschaft und suche nach rettenden Strohhalmen. …
Notwendig ist eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im Englischen so schön Empowerment heißt. …
Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Dazu muss ich das Trauma, was mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss. Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde. Deswegen ist es bei den großen politischen Herausforderungen jetzt so wichtig, dass die Regierung mit der Bevölkerung einen Minimalkonsens herstellt. … Alle … müssten zeigen, dass sie in der Lage sind, eine große Herausforderung gemeinsam zu lösen. Auf keinen Fall getroffene Vereinbarungen wieder infrage stellen, das unterhöhlt jede Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit. Ich glaube, das ist das Schlimmste, was der Ampel passiert ist.”
aus: Klaus Hurrelmann: Die Bevölkerung ist erschöpft, interviewt durch Sabine am Orde, taz online, 3.8.23, im Internet.
Abb.: RF Art: Corona, 2021, im Internet.
07/23
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