Demografische Panik
“Die demografische Panik in Mittel- und Osteuropa speist sich vermutlich aus einer Kombination aus alternder Bevölkerung, niedrigen Geburtenraten und einem endlosen Abwanderungsstrom. …
Die Hysterie rund um nicht existierende Immigranten, die drauf und dran sind, das Land zu überrennen, ist die Substitution einer echten Gefahr (Entvölkerung und demografischer Kollaps), über die man nicht zu sprechen wagt, durch eine scheinbare (Immigration). …
Es ist verräterisch, wenn Orbán sagt: ‘Migration ist für uns so etwas wie eine Kapitulation (…) wir wollen ungarische Kinder.’ Seine Nachwuchspolitik ist ein besserer Indikator für die tatsächlichen Ängste seiner Regierung als das ganze Anti-Immigranten-Gerede ohne Immigranten. …
Gerade einmal 1,6 Prozent der Bürger Polens sind gegenwärtig außerhalb des Landes geboren worden, muslimisch-polnische Bürger machen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung aus. Und dennoch gelten in den politischen Fieberfantasien der Region ethnische und kulturelle Vielfalt als existentielle Bedrohung. Und während die Polen in ihrem Heimatland nie mit Muslimen in Kontakt kommen, passiert das ihren Landsleuten in Großbritannien durchaus. Dort lebende Polen … [bewohnen] oft dieselben Stadtviertel … wie muslimische Immigranten, mit denen sie um dieselben Jobs konkurrieren. … [Das trägt] – in den sozialen Medien zu Hause nachlesbar – spürbar zu überreizten anti-muslimischen Haltungen in der Region bei …
Hier fällt ins Auge, wie radikal die Werte umgedeutet werden: Jetzt sind die Westeuropäer nicht mehr weit vorn und Mittel- und Osteuropäer weit zurück. In der Rhetorik der fremdenfeindlichen Populisten werden die Westeuropäer nun vielmehr als diejenigen beschrieben, die ihre kulturelle Identität verloren haben. …
Doch wie will man junge Ungarn davon überzeugen, dass es kein besseres ‘Heimatland’ im Westen gebe? Zumal ja gerade Orbàns Politik fast alle Chancen, zu Hause ein kreatives und einträgliches Leben zu führen, zerstört? …
Einwanderungsfeindliche Rhetorik … erscheint als der verzweifelte Versuch, eine Art Loyalitäts-Mauer zu bauen, die das demografische Ausbluten stoppen und die Mittel- und Osteuropäer in ihren Heimatländern halten soll. …
Anders als viele Theoretiker heute meinen, richtet sich der populistische Zorn weniger gegen den Multikulturalismus als vielmehr gegen den postnationalen Individualismus und Kosmopolitismus.”
aus: Ivan Krastev / Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Berlin: Ullstein 2021 (engl. Originalausg. 2019), S. 59-65.
Abb.: Gyula Szabó: The pool of memories, 2018, im Internet.
08/23
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