Mitleid und Solidarität
“… Was ihn [Rousseau] eigentlich interessierte, war nicht das Unglück anderer, sondern waren die Bewegungen des eigenen Herzens, welche unter anderem auch durch den Anblick fremden Leidens erzeugt werden können. …
Sowohl die leidenschaftliche Anteilnahme an fremdem Leid wie die Perversion dieses echten Leidens in das gefühlsselige Mitleid stehen außerhalb der Politik. Im politischen Raum entspricht ihnen die Solidarität, die sich nicht wie das Mitleid ‘zu den Schwachen hingezogen’ fühlt, sondern in abwägender Freiheit von Gefühl wie Leidenschaft darauf sinnt, eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte Interessengemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren. … Da die Solidarität der Vernunft teilhaftig ist, kennt sie das Allgemeine und ist fähig, ein Kollektiv begrifflich zu erfassen, nicht nur das Kollektiv einer Klasse oder einer Nation oder eines Volkes, sondern schließlich auch die Idee der Menschheit, wie die Vernunft sie uns vorgibt. Zwar kann diese Solidarität, sofern sie sich auch als Gefühl äußert, durch den Anblick fremder Not erweckt werden, aber sie wird sie selbst erst, wenn sie das reine Mit-Leiden übersteigt und die Starken und Reichen ebenso miteinbezieht wie die Armen und Schlechtweggekommenen. Verglichen mit dem Mitleid, das in seinem eigenen Gefühl schwelgt, aber auch mit dem Mit-Leiden, das leidenschaftlich seiner selbst vergißt, wird diese an Ideen orientierte und von der Vernunft geleitete Solidarität leicht als kalt und abstrakt erscheinen, als fehle es ihr an allgemeinster Menschenliebe. Dafür ist das, worauf sie sich gründet: die Prinzipien der Größe, der Ehre, der Würde des Menschen, erheblich dauerhafter als Gefühl und Leidenschaft. …
Ohne Unglück gäbe es kein Mitleid, und Mitleid ist darum ebenso interessiert daran, daß es Unglückliche gibt, wie der Machthunger daran interessiert ist, daß Schwäche und Ohnmacht ihm in die Hände spielen. Hinzu kommt, daß die sentimentale Gefühlsseligkeit des Mitleids beinahe automatisch dazu führt, den Anlaß des Gefühls, also das Leiden der anderen, zu glorifizieren. …
Eines steht fest: Wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet hat, haben sich Grausamkeiten ergeben, die es unschwer mit den grausamsten Gewaltherrschaften der Geschichte aufnehmen können. …
Die Widerrechtlichkeit des ‘Alles ist erlaubt’ ertönte hier [in der französischen Revolution] noch aus der echten Gesetzlosigkeit des Herzens, das dem Gesetz immer seine Erbarmungslosigkeit vorwerfen wird. Daß das Gesetz Erbarmen nicht kennt, wer wollte es leugnen? Nur darf man darüber nicht vergessen, daß es immer die brutale Gewalt ist, die sich an die Stelle des Gesetzes setzt, ganz gleich aus welchem Grunde Menschen es abschaffen….”
aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München. Piper, 1963, S. 112-117.
Abb: Ajeng Pratiwi: Provokasi, 2018, indoartnow, im Internet.
03/10