Berufsrevolutionäre
“Die Geschichte des Berufsrevolutionärs im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gehört in Wahrheit weder in die Geschichte der arbeitenden noch der besitzenden Klassen, wohl aber in die noch nicht geschriebene Geschichte des produktiven Müßiggangs. In dieser Hinsicht gehören die Berufsrevolutionäre in die gleiche Kategorie wie die modernen Künstler und Schriftsteller, die zwar auch oft genug Hungerleider waren, aber sich dennoch den Luxus leisteten, nicht für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Sie sind alle zusammen die wirklichen Erben der hommes de lettres des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, und sie taten sich zusammen in der Bohème, weil für sie alle ‘das Wort bourgeois einen ästhetisch nicht weniger als politisch verhaßten Klang hatte’. Für sie alle wurde die Bohème eine Insel seligen Müßiggangs inmitten des unerträglich geschäftigen Jahrhunderts der industriellen Revolution. Aber selbst in dieser neuen Klasse der Müßiggänger erfreute sich der Berufsrevolutionär noch besonderer Privilegien, weil nur er sich gemeinhin mit gar keiner irgendwie spezifizierten Arbeit abzugeben hatte. Er hatte wahrhaftig am wenigsten Grund, sich über Mangel an Zeit zum Nachdenken und studieren zu beklagen, und hierfür ist es nicht weiter wichtig, ob diese wesentlich dem Studium gewidmete Lebensweise in den berühmten Bibliotheken von Paris und London vonstatten ging oder in Wiener und Schweizer Kaffeehäusern oder schließlich in den keineswegs unerträglichen Gefängnissen der verschiedenen Vorkriegsregime. …
Der Ausbruch einer Revolution befreit die lokalen Berufsrevolutionäre aus ihren jeweiligen Aufenthaltsorten, aus den Gefängnissen und den Bibliotheken und den Kaffeehäusern. … Nicht Revolutionen zu machen, sondern die Macht zu ergreifen, wenn sie ausgebrochen sind, ist Sache des Berufsrevolutionärs. … Bekannt sind die Namen der Redner, der Verfasser von Flugschriften, der Parteiführer, nicht aber die von Verschwörern und Mitgliedern von Geheimgesellschaften, die es kaum je zu mehr als zu einigen aufsehenerregenden Attentaten bringen, die zudem noch meist mit Hilfe der Geheimpolizei zustande kommen. …
Es sind gewöhnlich die Berufsrevolutionäre, welche die einmal ausgebrochene Revolution in die Hand bekommen, und da sie selbstverständlich ihr Handwerk in der Lehre vergangener Revolutionen gelernt haben, sind gerade sie besonders ungeeignet, das wirklich Neue einer Revolution zu sehen und zu verstehen. …
Wo immer die Revolution scheinbar siegte, die Ein-Partei-Diktatur, also angeblich die Diktatur des Proletariats, in Wahrheit die der Berufsrevolutionäre, sich schließlich durchsetzte; und das hat noch immer bedeutet, daß die Organe und Institutionen der Revolution schließlich von den ‘revolutionären’ Parteien erledigt wurden, zumeist in einem Kampf, der erheblich blutiger war als der Kampf gegen die ‘Konterrevolution’.”
aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.332-338.
Abb.: Aditya Novali: Rebellious Silent, Detail #1, 2012, indoartnow, im Internet.
03/10