Historismus 1
“Der Historismus hatte das Gefühl der Bodenständigkeit des Menschen aufgelockert und das einst stabile Weltbild, in dem ein jedes Ding und jedes Lebende seinen nach einem göttlichen Plan bestimmten Ort hatte, in Bewegung gebracht. Unser Lebensgefühl sagt uns: alles könnte auch anders sein. Alles ist historisch geworden, durch unzählige Ursachen so bestimmt, wie es gerade ist. Anfangs empfindet man dieses Historisch-Bedingtsein … nur gegenüber den ‘äußeren Gebilden’, nur Politik, Kunst, Wissenschaft scheinen einem historischen Wandel unterworfen zu sein. Später greift dieses Gefühl des historischen Bedingtseins auch auf die Substanz selbst über. Auch unsere Gefühle, letzte Stellungnahmen, Empfindungen erscheinen als geworden. Der Boden, von dem aus wir bisher als aus einem stabilen Standort die Welt betrachteten, ist aufgelockert, unser ganzes Ich ist preisgegeben, wir scheinen gleichsam über uns selbst zu schweben. In tausend Gestalten finden wir uns wieder, es ist dieselbe seelische Lage, die einst die Seefahrer in die räumliche Ferne trieb, die den Historiker zu seinem Wandern und Einfühlen in die Vergangenheit bestimmt.”
aus: Karl Mannheim: Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, geschrieben 1922, hier aus: ders.: Strukturen des Denkens, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1980, 137/138.
09/10