konsequent
“Die unglückliche Liebe zur Konsequenz scheint eine deutsche Obsession zu sein; wenigstens von unsern Nachbarn wird sie nicht ohne weiteres geteilt. …
Nichts ist schematischer als der Amoklauf der Unbeirrbaren. Etwas Vorschriftsmäßiges, ja Bürokratisches haftet jeder Radikalität an, die sich auf nichts weiter beruft als auf Grundsätze. Wer von Prinzipientreue spricht, der hat bereits vergessen, daß man nur Menschen verraten kann, Ideen nicht.
Das Konsequent-Gebot verwechselt eine logische Kategorie mit einem moralischen Postulat. Weit entfernt davon, Klarheit zu schaffen, richtet es infolgedessen ein krausmauses Durcheinander in den Köpfen an. um einen kann das Pathos der Entschiedenheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bloße Konsequenz, wie jede logische Bestimmung, leer ist; ich kann ebensogut ein konsequenter Vegetarier sein wie ein konsequenter Faschist, Zechpreller, Atomkraftgegner, Trotzkist, Heiratsschwindler oder Anthroposoph.
Zum andern bleibt meistens undeutlich, welche Art von Deckungsgleichheit es ist, die da eingeklagt werden soll. Geht es um das Denken? Darum, daß es hübsch bei sich selber bleibt und nicht von ihm abweicht, was es zuvor gedacht hat? Oder will die Forderung nach Konsequenz darauf hinaus, daß Denken und Handeln übereinstimmen müssen?
… Niemand behauptet, daß es ein Verbrechen wäre, eine Sache zu Ende zu denken. … Auch ist es keine Schande, daß sich die Wege, die wir auskundschaften, früher oder später meist als Sackgasse erweisen. … Manche ziehen es vor, sich lebenslänglich in ihrem cul-de-sac einzurichten. Und solange es beim Denken bleibt, ist auch dagegen wenig einzuwenden, ohwohl mir ein solcher Aufenthalt ziemlich langweilig scheint. Aber wie die Fabel lehrt halten die Liebhaber der Konsequenz sehr wenig von der Differenz zwischen Theorie und Praxis. Gerade dort, wo kein Weg mehr weiterführt, wollen sie ihre Idee in die Tat umsetzen. Das kann … mörderische Folgen haben. …
Ich für meinen Teil lade Euch ein, die Vorzüge der Inkonsequenz zu bedenken: das RIsiko, das sie gewährt, die Freiheit sich ungehindert zu bewegen, das Vergnügen der Phantasie. … Unter den verbotenen Hintergedanken, die da, nach Aufhebung der Selbstzensur, zum Vorschein kämen, könnte sich, wer weiß, manches Brauchbare, manches Überraschende finden; und wie angenehm wäre es doch, wenn der ganze Apparat der mühsamen Verdrängung, der politischen Bigotterie und der selbstverliebten Prinzipienreiterei auf dem Sperrmüll verschwände!”
aus: Hans-Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz, Transatlantik 1981, hier aus: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1985, S.14-26.
Abb.: Monika Michalko: Absolut, 2020, im Internet.
09/10