Nichtleser
“Wer nicht liest ist doof. … Die Lust an der Literatur ist auch die Lust am Leben. Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. Das setzt natürlich den Willen voraus, sich auf Geschichten einzulassen, sich aktiv ins Buch hinein zu begeben, sich bewußt von den Reizen und Zerstreuungen anderer Medien abzuwenden. Dann kann es eine wunderbare ewige Liebesgeschichte werden – die zwischen einem Buch und einem leidenschaftlichen Leser. Und sind die nicht blöde, die der Liebe ausweichen, wenn sie uns begegnet? …
Und doch, es ist tatsächlich so: nicht jeder kann lesen. Man muß für das Lesen eine Begabung haben wie für das Malen und das Klavierspielen – sonst wird nichts Rechtes daraus. Es gibt Menschen, die macht die stille Konfrontation mit dem Buch kribbelig. … Wir können diese Menschen ein wenig bedauern, wir möchten auch nicht unbedingt lange Abende mit ihnen verbringen, wir müssen sie aber nicht verachten. Verachtenswert hingegen sind die Bildungskoketteure, die in ihrer Kindheit gelesen haben und jetzt seufzen: ‘Ach, wie ich Sie beneide, weil Sie soviel lesen! Das möchte ich auch, aber ich komm einfach nicht mehr dazu.’ Und auf die, nur auf die, trifft die Behauptung zu, daß, wer nicht (mehr) liest), auch irgendwie doof ist – deshalb heißt es hier: rote Karte, Platzverweis, Liebesentzug. Sie kommen, Verehrsteste(r), zum Friseurbesuch, zum Stadtbummel, zum Autowaschen, Sie strampeln für Ihre Karriere, Sie verbringen lange Abende über Hirschragout an Preiselbeerschaum oder mit der Bohrmaschine im Bastelkeller, Sie trainieren sich fit und sitzen vorm Fernseher, um das Literarische Quartett zu ertragen, und dann kaufen Sie die dort wie auch immer ‘besprochenen‘ Bücher, stapeln sie auf dem Nachttisch, aber zum Lesen kommen Sie nicht? Wer es braucht, tut’s auch, so einfach ist das. Wer es nicht braucht, tut‘s nicht und ist und bleibt – naja: ziemlich doof!”
aus: Elke Heidenreich: Wer nicht liest ist doof. In: Kursbuch 133, 1998, S.1-8.
Abb.: Su Blackwell: Treasure Island, 2013, im Internet.
12/10
April 4th, 2011 at 9:28
Frau Heidenreich, sie sind doof! Lesen ist Lust am Leben? Fakt ist, lesen ist ein Leben in der Theorie. Ich weiß durch Lekture, wie der Mensch tickt, weine und lache über deren Erfahrungen, ich weiß, wie die Natur aussieht, mir wird beschrieben wie sie riecht und in welchen Farben sie in der Sonne leuchtet. Ich entdecke die entferntesten Winkel der Erde und nehme an den exotischsten Kulturritualen teil.
Und während ich lese und mich über fremde Biographien amüsiere, bleibt mein eigener Lebenslauf im Stillstand. Ich finde mich in der Wohnung wieder, isoliert und abseits allen Lebenswertem. Wie ein Peter Kien sitze ich in der Bibliothek, wo das echte Leben an mich nicht rankommt. In der Bahn ignoriere ich die vorüberziehende Landschaft, die grüner und lebendiger ist als sie mir die Literatur vermitteln könnte. Wie viele Kleinigkeiten bleiben mir verborgen, weil spannende Lektüre mir verbietet, den Blick zu heben.
Schreiben wir doch lieber unsere eigene Geschichte, in dem wir vor die Tür gehen und eigene Erfahrungen machen…
Frau Heidenreich, sie möchten keine langen Abende mit uns verbringen. Ehrlich gesagt, wir auch nicht mit ihnen, weil sie nur die Bücher zum Gesprächsthema anzubieten haben werden. Sie werden erzählen, wie sie ihren eigenen Kummer stillen, wenn sie ihn mit Anna Karenina vergleichen oder das schlechte Gewissen beruhigen, wenn sie einen Raskolnikow als Maßstab nehmen für Gelegenheitsdiebstahl. Ihre Träume und Wünsche werden sich auf Buchstaben beschränken, die Motivation allen Lebens begrenzt sich auf das Umdrehen der nächsten Seite. trostlos… und doof :-)
April 4th, 2011 at 12:19
Aber da steht doch nicht, daß man sein ganzes Leben ausschließlich mit Büchern zubringen soll? Da steht, daß Bücher einem helfen, Sachen zu sehen, die man sonst nicht gesehen hätte, weil einem niemand erzählt, was man sieht. Wie soll denn jemand, der aus einem Milieu kommt, in dem nicht geredet wird, mit Dir in Kontakt kommen, von Dir eingeladen werden und dann auch noch Gesprächsstoff mitbringen? Bücher sind ein Zugang zu Themen und Milieus, zu denen wir im normalen Leben keinen Zugang haben, weil es sehr schwer ist, das eigene Milieu zu verlassen, in die meisten anderen Milieus kommt man nämlich nicht so einfach hinein…
April 4th, 2011 at 17:05
Das Lesen an sich kritisiere ich nicht, hab ich selbst jahrelang exzessiv betrieben. Es ist dieses vermitteln, Bücher seien der Inbegriff der Lebenslust. An dieser Stelle reibe ich mich, weil es im Umkehrschluss bedeuten müsste, ohne Bücher keine Lebenslust. Ebenso die Aussage, Nichtleser seien doof. Ich kann es nicht nachvollziehen, in keinerlei Hinsicht. Ein Autonarr würde mir wohl sein Hobby als lebensförderndes Aphrodisiakum verkaufen wollen, ein Sportler den Dauerlauf im Wald als Nonplusultra der Lebenskunst etc pp Heidenreich bedauert den Nichtleser und stellt _den Leser_ (nicht das Buch!!)auf dem Olymp, auf dem es nichts verloren hat. Natürlich freut es einen, wenn man sein Hobby weitergeben kann, aber auf so marktschreierische Art, mit der wir-Leser-sind-die-Überlegenen-Attitude wie sie es hier veranstaltet, kann ich mich nicht anfreunden.
Nicht falsch verstehen: Lesen ist eine gute Sache, in vielerlei Hinsicht, doch sie stellt den Nichtleser auf die unterste Stufe, macht ihn zu einem Wurm – einen “doofen” Wurm. Beste Grüße!