Bibliotheken
“Modell einer schlechten Bibliothek in 19 Punkten …
1) Die Kataloge müssen so weit wie möglich aufgeteilt werden: man verwende größte Sorgfalt darauf, den Katalog der Bücher von dem der Zeitschriften zu trennen und den der Zeitschriften vom Schlagwort- oder Sachkatalog, desgleichen den Katalog der neuerworbenen Bücher von dem der älteren Bestände. Nach Möglichkeit sollte die Orthographie in den beiden Bücherkatalogen (Neuerwerbungen und alter Bestand) verschieden sein: beispielsweise Begriffe wie “Code” in dem einen mit C in dem anderen mit K oder Eigennamen wie Tschaikowsky bei Neuerwerbungen mit einem Č, bei den anderen mal mit Ch, mal mit Tch.
2) Die Schlagworte müssen vom Bibliothekar bestimmt werden. Die Bücher dürfen … im Impressum keinen Hinweis auf die Schlagworte tragen, unter denen sie aufgeführt werden sollen.
3) Die Signaturen müssen so beschaffen sein, daß man sie nicht korrekt abschreiben kann, nach Möglichkeit so viele Ziffern und Buchstaben, daß man beim Ausfüllen des Bestellzettels nie genug Platz für die letzte Chiffre hat und sie für unwichtig hält; so daß dann der Schalterbeamte den Zettel als unvollständig ausgefüllt zurückgeben kann.
4) Die Zeit zwischen Bestellung und Aushändigung eines Buches muß sehr lang sein.
5) Es darf immer nur ein Buch auf einmal ausgehändigt werden.
6) Die ausgehändigten Bücher dürfen, da mit Leihschein bestellt, nicht in den Lesesaal mitgenommen werden, so daß man sein Leben in zwei Teile aufspalten muß, einen für die Lektüre zu Hause und einen für die Konsultation im Lesesaal. Die Bibliothek muss das kreuzweise Lesen mehrerer Bücher erschweren, da es zum Schielen führt.
7) Es sollte möglichst überhaupt keine Fotokopierer geben; falls doch einer da ist, muß der Zugang weit und beschwerlich sein, der Preis für eine Kopie muß höher sein als im nächsten Papiergeschäft und die Zahl der Kopien begrenzt auf höchstens zwei bis drei Seiten.
8) Der Bibliothekar muss den Leser als einen Feind betrachten, als Nichtstuer (andernfalls wäre er bei der Arbeit) und als potentiellen Dieb.
9) Fast das ganze Personal muß an irgendwelchen körperlichen Gebrechen leiden. … Gewisse Tätigkeiten in einer Bibliothek … [wie] das Klettern auf Leitern, das Tragen schwerer Lasten etc. [müssen ihm unmöglich sein] …
10) Die Auskunft muß unerreichbar sein.
11) Das Ausleihverfahren muß abschreckend sein.
12) Die Fernleihe sollte unmöglich sein oder jedenfalls Monate dauern; am besten, man sorgt dafür, daß der Benutzer gar nicht erst erfahren kann, was es in anderen Bibliotheken gibt.
13) Infolge all dessen muß Diebstahl möglichst leichtgemacht werden.
14) Die Öffnungszeiten müssen genau mit den Arbeitszeiten zusammenfallen, also vorsorglich mit den Gewerkschaften abgestimmt werden: totale Schließung an allen Samstagen, Sonntagen, abends und während der Mittagspausen. Der größte Feind jeder Bibliothek ist der Werkstudent, ihr bester Freund einer … der seine eigene Bibliothek besitzt, also keine öffentliche aufsuchen muß und dieser die seine bei seinem Ableben hinterläßt.
15) Es muß unmöglich sein, sich innerhalb der Bibliothek irgendwie leiblich zu stärken, und es muß auch unmöglich sein, sich außerhalb der Bibliothek zu stärken, ohne zuvor alle ausgeliehenen Bücher zurückgegeben zu haben, um sie dann nach der Kaffeepause erneut zu bestellen.
16) Es muß unmöglich sein, das einmal ausgeliehene Buch am nächsten Tag wiederzufinden.
17) Es muß unmöglich sein zu erfahren, wer das fehlende Buch ausgeliehen hat.
18) Es darf möglichst keine Toiletten geben.
19) Ideal wäre schließlich, wenn der Benutzer die Bibliothek gar nicht erst betreten könnte; betritt er sie aber doch, stur und pedantisch auf einem Recht beharrend, das ihm aufgrund der Prinzipien von 1789 konzediert worden ist, aber noch nicht Eingang ins kollektive Bewußtsein gefunden hat, so darf er auf keinen Fall, nie und nimmer, außer bei seinen kurzen Besuchen im Lesesaal, Zugang zu den Bücherregalen selbst haben.
aus: Umberto Eco: Die Bibliothek. München, Wien: Hanser 1987, S.15-19
Abb.: Hubertus Gojowczyk: Tür zur Bibliothek, Documenta6, Kassel, 1977, im Internet.
12/10