Wissenwollen
“Das Wissen, das in Erscheinung tritt, indem es sich anderen mitteilt, ist das gute Wissen, wohl sucht es Beachtung, aber es wendet sich gegen niemanden. Die Ansteckung, die von Lehrern und Büchern ausgeht, sucht sich zu verbreiten. In dieser unschuldigen Phase bezweifelt es sich nicht, es faßt zugleich Fuß und breitet sich aus, es strahlt und will alles mit sich erweitern. Man schreibt ihm die Eigenschaften des Lichtes zu, die Geschwindigkeit, mit der es sich ausbreiten möchte, ist die höchste, und man ehrt es, indem man es als Aufklärung bezeichnet. In dieser Form haben es die Griechen gekannt, bevor es durch Aristoteles in Schachteln gezwängt wurde. Man mag nicht glauben, daß es gefährlich war, bevor es zertrennt und verwahrt wurde. Als der reinste Ausdruck für ein Wissen, das unschuldig war, weil es ausstrahlen mußte, erscheint mir Herodot. Seine Einteilungen sind die der Völker, die verschieden sprechen und leben. Er bekräftigt sie Einteilungen nicht, wenn er von ihnen erzählt, sondern schafft Platz für das Verschiedenste in sich und schafft Platz in den anderen, die durch ihn davon erfahren. In jedem jungen Menschen, der von hunderterlei Dingen hört, steckt ein kleiner Herodot, und es ist wichtig, daß man ihn nicht darüber zu erheben sucht, weil man Beschränkung auf einen Beruf von ihm erwartet.
Nun spielt sich der wesentliche Teil eines Lebens, das zu wissen beginnt, in der Schule ab, es ist die erste öffentliche Erfahrung eines jungen Menschen. Er mag sich auszeichnen wollen, aber viel mehr noch will er Wissen strahlen, sobald es ihn ergreift, damit es ihm nicht zum bloßen Besitz werde. Die Kameraden, die langsamer sind als er, müssen glauben, daß er sich bei den Lehrern einschmeichelt, und halten ihn für einen Streber. Doch er hat keinen Punkt im Auge, den er erlangen will, eben über solche Punkte will er hinaus und die Lehrer in seinen Freiheitsdrang hineinziehen. Nicht mit den Kameraden mißt er sich, sondern mit den Lehrern. Er träumt davon, diesen die Nützlichkeiten auszutreiben, er will sie überwinden. Nur die unter ihnen, die sich den Nützlichkeiten nicht ergeben haben, die ihr Wissen um seiner selbst willen verströmen, liebt er mit überschwenglicher Liebe, diesen huldigt er, wenn er rasch auf sie reagiert, diesen dankt er unaufhörlich für ihr unaufhörliches Verströmen.
Aber mit dieser Huldigung sondert er sich von den anderen ab. vor deren Augen sie sich abspielt. Er beachtet sie nicht, während er sich hervortut. Er ist von keinerlei Übelwollen gegen sie erfüllt, aber er läßt sie aus dem Spiel, sie spielen nicht mit und bestehen nur noch als Zuschauer. Da sie von der Substanz des Lehrers nicht ergriffen sind wie er, vermögen sie nicht wahrzuhaben, daß er’s ist, und müssen meinen, daß er jenen zu niederigen Zwecken in die Hand spielt. Sie grollen ihm für ein Schauspiel, in dem ihnen keine Rolle zufällt, vielleicht beneiden sie ihn ein wenig dafür, daß er durchhält. Aber hauptsächlich empfinden sie ihn als Störenfried, der ihre natürliche Gegnerschaft zum Lehrer verwirrt, die er für sich, aber vor ihren Augen in Huldigung verwandelt.”
aus: Elias Canetti: Die gerette Zunge. Geschichte einer Jugend. München: Fischer TB 1979 (1977), S.242-243.
07/11