Romantik
“Es mag wohl sein, daß eine besondere Gestirnung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen soll; denn es ist gewiß eine recht wunderbare Sache mit dieser Kunst. … Bei den Malern und Tonkünstlern kann man leicht einsehen, wie es zugeht … Die Töne liegen schon in den Saiten, und es gehört nur eine Fertigkeit dazu, diese zu bewegen. Bei den Bildern ist die Natur die herrlichste Lehrmeisterin. … Dagegen ist von der Dichtkunst sonst nirgends äußerlich etwas anzutreffen. … Es ist alles innerlich, und wie jene Künstler die äußeren Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, so erfüllt der Dichter das inwendige Heiligtum des Gemüts mit neuen, wunderbaren und gefälligen Gedanken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen und gibt uns durch Worte eine unbekannte herrliche Welt zu vernehmen. …
Heinrich war von Natur zum Dichter geboren. Mannigfache Zufälle schienen sich zu seiner Bildung zu vereinigen, und noch hatte nichts eine innere Regsamkeit gestört. Alles, was er sah und hörte, schien nur neue Riegel in ihm wegzuschieben und neue Fenster ihm zu öffnen. Er sah die Welt in ihren großen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm, und ihre Seele, das Gespräch, noch nicht erwacht. Schon nahte sich ein Dichter, ein liebliches Mädchen an der Hand, um durch Laute der Muttersprache und durch Beruhigung eines süßen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuschließen und den einfachen Akkord in unendliche Melodien zu verwandeln …”
aus: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Werke-Briefe-Dokumente. 1.Bd. Die Dichtungen, Heidelberg: Schneider, 1953, S.34-112.
07/11