Kitsch
“… Ist also die Kunst nicht ein Mittel, um den Kitsch vom Leben abzublättern? Schichtenweise legt sie ihn bloß. Je abstrakter sie wird, desto durchsichtiger wird die Luft. Je weiter sie sich vom Leben entfernt, desto klarer wird sie? Welche Verkehrtheit ist es, zu behaupten, das Leben sei wichtiger als die Kunst! Das Leben ist gut, so weit es der Kunst standhält: was nicht kunstfähig am Leben ist, ist Kitsch! Aber was ist Kitsch?
Der Dichter X. wäre in einer noch etwas schlechteren Zeit ein beliebter Familienblatterzähler geworden. Er hätte dann vorausgesetzt, daß das Herz auf bestimmte Situationen immer mit den gleichen bestimmten Gefühlen antwortet. Der Edelmut wäre in der bekannten Weise edel, das verlassene Kind beweinenswert und die Sommerlandschaft herzstärkend gewesen. Es ist zu bemerken, daß sich damit zwischen den Gefühlen und den Worten eine feste, eindeutige, gleichbleibende Beziehung eingestellt hätte, wie sie das Wesen des Begriffs ausmacht. Der Kitsch, der sich so viel auf das Gefühl zugute tut, macht also aus Gefühlen Begriffe.
Nun ist aber X. infolge der Zeitumstände statt guter Familienblatterzähler schlechter Expressionist geworden. Als solcher stellt er geistige Kurzschlüsse her. Er ruft Mensch, Gott, Geist, Güte, Chaos und spritzt aus solchen Vokabeln gebildete Sätze aus. Wenn er die volle Vorstellung oder wenigstens die volle Unvorstellbarkeit mit ihnen verbände, so könnte er das gar nicht tun. Aber die Worte sind lang vor ihm in Büchern und Zeitungen schon sinnvolle und sinnlose Verbindungen eingegangen, er hat sie oft beisammen gesehen, und schon bei kleinster Ladung mit Bedeutung zuckt zwischen ihnen der Funke. Das ist aber nur die Folge davon, daß er nicht an erlebten Vorstellungen denken gelernt hat, sondern schon an den von ihnen abgezogenen Begriffen.
Der Kitsch erweist sich in diesen beiden Fällen als etwas, was das Leben von den Begriffen abblättert. Schichtenweise legt er sie bloß. Je abstrakter er wird, desto kitschiger wird er. Der Geist ist gut, soweit er noch dem Leben standhält.
Aber was ist Leben?
Leben ist leben: wer es nicht kennt, dem ist es nicht zu beschreiben. Es ist Freundschaft und Feindschaft, Begeisterung und Ernüchterung, Peristaltik und Ideologie. Das Denken hat neben anderen Zwecken den, geistige Ordnungen darin zu schaffen. Auch zu zerstören. Aus vielen Erscheinungen des Lebens macht der Begriff eins, und ebenso oft macht eine Erscheinung des Lebens aus einem Begriff viele neue. Bekanntlich wollen unsere Dichter nicht mehr denken, seit sie von der Philosophie gehört zu haben glauben, daß man Gedanken nicht denken darf, sondern sie leben muß.
Das Leben ist an allem schuld.
Aber um Gottes Willen: was ist leben?
Es ergeben sich zwei Syllogismen:
Die Kunst blättert den Kitsch vom Leben.
Der Kitsch blättert das Leben von den Begriffen.
Und: Je abstrakter die Kunst wird, desto mehr wird sie Kunst.
Je abstrakter der Kitsch wird, desto mehr wird er Kitsch.
Das sind zwei herrliche Syllogismen. Wer sie auflösen könnte?
Nach dem zweiten scheint es das Kitsch = Kunst ist. Nach dem ersten aber ist Kitsch = Begriff – Leben. Kunst = Leben – Kitsch = Leben – Begriff + Leben = zwei Leben – Begriff. Nun ist aber, nach II, Leben = 3x Kitsch und daher Kunst = 6x Kitsch – Begriff.
Also was ist Kunst? …”
aus: Robert Musil: Unfreundliche Betrachtungen. In: ders.: Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek: Rororo, 1962 (1957), S. 53-55
Abb.: Thomas Hirschhorn: Eye to Eye-Subjecter, 2010. Exhibition view “Kunst & Philosophie” at NBK, Berlin, 2011, im Internet.
08/11