Höflichkeit
“… In ihrer Gesellschaft wurde ich gewahr, daß echte Höflichkeit – einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens – anders und komplizierter ist, als ich es daheim und in den Erziehungseinrichtungen gelehrt worden war. Die ‘Disziplin‘, an die man mich als Kind gewöhnt hatte, war primitiv; die Schauspielerin bemühte sich mit ihren schönen und leichten Händen, den Zwang dieser primitiven Disziplin zu lösen. Sie lehrte mich, wahre Höflichkeit sei es nicht, wenn wir ein Rendezvous, zu dem wir keine Lust haben, auf die Minute einhalten; es sei höflicher, wenn wir die Möglichkeiten zu einem unangenehmen Rendezvous erbarmungslos im Keim ersticken. Sie lehrte mich, daß wir ohne Erbarmungslosigkeit niemals frei sein können und unseren Gefährten ewig zur Last fallen werden. Sie lehrte mich auch, daß man wohl grob, aber niemals unhöflich sein darf; man darf jemanden ins Gesicht schlagen, aber man darf ihn nicht langweilen; und eine Unhöflichkeit ist es, Zuneigung zu mimen, wo man von uns viel weniger erwartet.”
aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. München: Piper 2000, (ungarische Originalausgabe 1934), S. 282/283.
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