Stasi
“… Aber was war das schleichende Gift, das du aus diesen Akten einatmetest und das dich so lähmte? Damals konntest du es nicht benennen. jetzt weiß ich: Es war die brutale Banalisierung eures Lebens auf diesen hunderten von Seiten. Die Gewöhnlichkeit, mit der diese Leute euer Leben ihrer Sichtweise anpaßten. Selbst wenn die Tatsachen gestimmt hätten, über die die Observanten berichteten und die die Führungsoffiziere von Zeit zu Zeit zusammenfaßten – was keineswegs immer der Fall war, sie mußten ja den Interessen und Erwartungen der Auftraggeber angepaßt werden -, selbst dann stimmte nach meinem Empfinden nichts. Wenn ich irgend etwas gelernt habe bei der Lektüre dieser Berichte, dann, was Sprache mit der Wirklichkeit anstellen kann. Es war die Sprache der Geheimdienste, der sich das wirkliche Leben entzog. Ein Insektensammler, der seine Objekte aufspießen will, muß sie vorher töten. Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise, und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es. Ja, sagte ich zu Francesco, das war es, was ich damals empfand: Ich fühlte mich besudelt. …
So wäre es dir lieber gewesen, sagte Francesco, ihr hättet intelligente, womöglich feinfühlige Informanten auf eurer Spur gehabt?”
aus: Christa Wolf: Die Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin: Suhrkamp 2010, S.183/184.
Abb: Yannis Gaitis: Men in hats, im Internet.
05/13