Entwicklung 1
“Es ist zu fragen: Wir kann ein Mann unseres Verstandes den Entwicklungsschwindel stützen? (Man antwortet sich selbst: aus Güte versickernd in geduldetes Mißverständnis!)
Aber wo ist die berühmte ‘Entwicklung’ und – wo nicht?
Entwicklung – Jargon des 19. Jahrhunderts; gleich = Steigerung von Fähigkeiten aus einer Summierung von Mengen. (Qualitäten aus Quantitäten. Die Nuance als Stufe.) Wirkt re vera nur bei dem, was man, physikalisch gesprochen, ‘Masse’ nennt. Also in der Zivilisation. Alles Technische steht unter der Entwicklung; die beliebten Fabrikschornsteine, in den netten Beleuchtungen populärer Maler die Eisenbahnen (‘das gewaltige Schienennetz’), die Telephone, die Rekorde der Titanics, die Drahtlosikeiten, Seifen, Setzmaschinen, Kunstweine, die Gummiartikel, Photographien, Polizeiverwaltungen, die Kanonen, Luftschiffe, Konservenfabriken, Füllfederhalter. Mittagsblätter, die Anweisungen zu hypnotisieren, die gut imitierten Teppiche, Akkumulatoren, Gartentische, Gipsabdrücke, Rotationsdruck, Volksheere, Harrod, Duval, Aschinger und Sir Thomas Lipton – alle können sich entwickeln. Oder ist das ein ungenaues Wort? Etwa so: alle können sich verfeinern und vermannigfältigen; fortschreiten – Atome umlagern unter Druck und Widerdruck. Nur kann sich nicht entwickeln, was die Entwicklung macht; der – entschuldigen Sie – Geist. …
Zwischen der Idee, nun, des Luftschiffes und der Idee des Aeroplans gibt es weder eine Entwicklung noch einen Fortschritt. Sie sind ganz unabhängig voneinander. Ideen sind immer da, und immer neu. Und jede Idee ist eine Kathastrophe, wie jeder neue Mensch, den man kennen lernt.”
aus: Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik II. (05.06.1912). In: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts “Aktion”, München: dtv 1964, S.70/71.
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