Mitte 1
“Man denkt sich, es gäbe eine politische ‘Mitte‘. … Ganz links sind die mit den linken Auffassungen, ganz rechts die mit den rechten Haltungen und in der Mitte ist eben die Mitte, die in jeder Hinsicht gemäßigt ist. …
Die Parteien links der Mitte nehmen an, die Linken, ‘die haben wir ohnehin’, und die Menschen mit den rechten Auffassungen werden ohnehin die Parteien rechts der Mitte wählen. Aber beide Gruppen reichen nicht für eine Mehrheit. Eine Mehrheit wird der erkämpfen, dem es gelingt, die Mitte, uns mag sie noch so klein sein, auf seine Seite zu ziehen. …
Diese Vorstellung kann … im Endeffekt dazu führen, dass eine große politische Partei, die eine erhebliche Anhängerschaft hat, ihre Politik nicht auf diese Anhängerschaft ausrichtet, sondern auf eine ziemlich kleine Gruppe an Leuten, die sie als ‘die Mitte’ definiert – und die nicht zu ihrer Anhängerschaft zählt. …
Was ist daran falsch?
[1.] … Wenn man versucht, einer bestimmten Gruppe der Bürger und Bürgerinnen einfach nach dem Mund zu reden, dann merkt man das irgendwann. … Man wird dann damit mehr Leute abschrecken als man dadurch gewinnt.
[2.] … Man demotiviert und frustriert damit die eigene Anhängerschaft. …
[3.] … Diese Mitte, die zu alle Fragen moderate Auffassungen hat, und die auch noch starr und stabil ist, die gibt es gar nicht. … Die angebliche ‘Mitte’ besteht … zu einem erheblichen Teil aus Leuten, die eher so etwas wie ‘Doppelsinnige’ sind: progressiv in dieser, konservativ oder reaktionär in einer anderen Hinsicht. … Die gewinnt man aber, beispielsweise als Progressiver … indem man sie mit einer progressiven Haltung anspricht – in jenen Fragen, in denen sie progressiv ‘ticken’.
[4.] Von all dem abgesehen gibt es ja außerdem auch eine ganze Reihe von Fragen, bei denen es keinen vernünftigen Mittelweg gibt …: Entweder ist man der Auffassung, dass ein ordentlicher Wohlfahrtsstaat nützliche Auswirkungen hat, dann wird man ihn unterstützen, oder man meint, er sei schädlich, dann ist man für seinen Rückbau. Aber eine ‘moderate’ Haltung gibt es in diesem Sinn nicht. …
[5.] Letztendlich ist diese Vorstellung einer ‘politischen Mitte’ auch deshalb fragwürdig, weil eine Gesellschaft ein dynamisches System ist. Ein Meinungsklima kann sich ändern…: Erfolg werde ich … haben, wenn ich ‘die Mitte’ in die eine oder andere Richtung verschiebe…”
aus: Robert Misik: Ist unsere Politik noch zu retten? Wien: Picus 2013, S.55-58.
01/14