Bildung
“Bildung besteht nicht in dem Besitz bestimmter Kenntnisse, Kenntnisse sind bloßes Material für die Bildung des Geistes, wie Nährstoffe für den Leib, sondern in der Aneignung und Verwertung von Kenntnissen zur Ausgestaltung des inneren Menschen und zur wirksamen Bestätigung in der geistigen und natürlichen Lebensumgebung. Nicht, was man weiß, sondern was man mit seinem Wissen anzufangen weiß, ist entscheidend für die Bildung einer Persönlichkeit.
Diese Fähigkeit, das Wissen als werbendes Kapital zu verwenden, es als Kraft zur Lösung von Aufgaben, theoretischen und praktischen zu gebrauchen, wird nur durch freie, Betätigung der intellektuellen Kräfte am Stoff gewonnen. An welchem Stoff diese Betätigung stattfindet, ob an Sprachen und Literatur oder an der Natur und der Mathematik, darauf kommt es nicht so sehr an: jede lebendige, aus dem Interesse an der Sache kommende und daher den ganzen Menschen erfassende Betätigung geistiger Kräfte wirkt bildend auf sein ganzes Wesen.
Und umgekehrt: ohne die spontane, aus eigener Teilnahme an der Sache fließende Arbeit ist jeder Besitz von Kenntnissen tote Last; das Edelste wird gemein, wenn es als bloßes Examenswissen eingedrillt und mitgeschleppt wird. Nur ein grober didaktischer Materialismus kann dies verkennen, kann den Wert der persönlichen Bildung des einzelnen nach dem Wert oder nach seiner Schätzung des Wertes der Bildungsstoffe bestimmen.”
Friedrich Paulsen: Das Prinzip der Gleichwertigkeit der drei Formen der höheren Schule. In: ders.: Ausgewählte pädagogische Abhandlungen. Paderborn 1960: S.82