Energie
“Mittlerweile … ist von Energie und Power auch bei Haargel und Deos, manchmal sogar bei Fahrradhelmen und Skiern die Rede, also bei Produkttypen, die nicht direkt auf den Stoffwechsel einwirken. … Alles, was dem Konsumenten mehr Selbstvertrauen geben kann oder ein Ungenügen behebt, wird als aufbauend empfunden und lässt sich zum Energieschub verklären. Dabei … reduziert … [die Energie-Metaphorik] Gefühle des Unwohlseins auf Treibstoffmängel, so als ob sei ein Organismus eine Maschine, die nur mit den richtigen Substanzen versorgt werden muss, um tadellos zu funktionieren. Der Mensch wird zum Akku, den man aufladen kann. …
… ähnliche Symptome des Unwohlseins [wurden] um die Wende zum 20. Jahrhundert noch anders interpretiert. Damals deutete man Konzentrationsschwäche, Unruhe, Lethargie oder Dauermüdigkeit als Beleg dafür, dass der Körper für die moderne Arbeits– und Technikwelt generell nicht geschaffen sei …
Die antimodernistische Diagnose einer Maßlosigkeit blieb … über mehr als ein Jahrhundert hinweg unverändert, doch wurde sie einmal so interpretiert, dass das Individuum zu viel aufnehmen muss, das andere Mal hingegen damit erklärt, dass es zu viel geben muss. …
So kann man beim französischen Soziologen und Psychologen Alain Ehrenberg, dessen 1998 erschienenes Buch Das erschöpfte Selbst mittlerweile als maßgebliche Analyse von Burnout-Syndrom und Depression gilt, nachlesen, der darunter Leidende ‘hat keine Energie …’ … Doch woraus die nötige Energie bestehen soll, ob und wie sie messbar ist, ja, wie man auf sie Einfluss nehmen kann, blendet Ehrenberg aus. …
Wer Ehrenberg liest, wird sich danach genauso von Energiearmut bedroht sehen wie jemand, der von einem Werbetexter eingeredet bekommt, endlich mehr für seinen Energiehaushalt tun zu müssen. …”
aus: Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S.111-114.
Abb.: Luc Schuiten, in: ders.: Vers une cité végétale, Wavre: Mardaga 2010, S.31.
09/15