MALTE WOYDT

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Alzheimer

“… Erst kürzlich hatte er festgestellt, dass der Akt des Sichhinsetzens im Kern ein Kontrollverlust war, ein blinder freier Fall nach hinten. Sein fabelhafter blauer Sessel in St. Jude war wie ein Baseballhandschuh, der jeden auf ihn zufliegenden Körper, gleich, aus welchem Winkel und mit welcher Wucht er kam, sanft aufzufangen wusste, der Sessel hatte starke, hilfsbereite Bärenarme, auf die Alfred zählen konnte, wenn er sich, völlig blind, rückwärts fallen ließ. …

… Aber Denise ging schon aus der Küche und brachte den Teller Alfred, für den das Problem des Daseins dieses war: dass die Welt, wie ein aus dem Boden emportreibender Weizensämling, sich auf der zeitlichen Achse vorwärts bewegte, indem sie ihrem äußeren Rand Zelle für Zelle hinzufügte, also einen Moment auf den anderen schichtete, und dass es, selbst wenn man die Welt in ihrem frischesten, jüngsten Moment begriff, keinerlei Garantie dafür gab, dass man sie auch einen Moment später noch begreifen konnte. Als er gerade verstanden hatte, dass seine Tochter Denise ihm im Wohnzimmer seines Sohnes Chip einen Teller Snacks reichte, reifte bereits der nächste Augenblick im Ablauf der Zeit zu einer urtümlichen, noch unbegriffenen Existenz heran, in der Alfred zum Beispiel die Möglichkeit, dass seine Frau Enid ihm im Salon eines Bordells einen Teller Fäkalien reichte, nicht vollkommen ausschließen konnte, und kaum hatte er sich der Gegenwart von Denise, den Snacks und Chips Wohnzimmer vergewissert, da hatte der äußere Rand der Zeit bereits eine weitere Schicht Zellen hinzugewonnen, sodass er abermals mit einer andersartigen, noch unbegriffenen Welt konfrontiert war, weshalb er es, anstatt seine Kräfte bei diesem Wettlauf zu verausgaben, zusehends vorzog, seine Zeit unter Tage zuzubringen, zwischen den unveränderlichen historischen Wurzeln der Dinge.

‘Etwas zur Stärkung, solange ich das Mittagessen vorbereite’, sagte Denise.

Dankbar blickte Alfred auf die Snacks, die sich ihm zu ungefähr neunzig Prozent stabil als etwas Essbares präsentierten und nur sporadisch in Gegenstände von ähnlicher Größe und Form hinüberflimmerten. …

… Wie eine Ehefrau, die gestorben, oder ein Haus, das abgebrannt war, genauso lebhaft hatte er die Klarheit, die man zum Denken, und die Kraft, die man zum Handeln brauchte, noch in Erinnerung. Durch ein Fenster zur nächsten Welt konnte er sie sehen, diese Klarheit, konnte sie sehen, diese Kraft, nur knapp außerhalb seiner Reichweite, gleich hinter den Thermopanescheiben. …”

aus: Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 2003, 92-96, 769.

Abb.: William Utermohlen: Self portraits, 1967, 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, im Internet.

04/16

25/04/2016 (1:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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