Wellness
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“Der … [Gesellschaftsvertrag] bricht langsam in sich zusammen und so entsteht dieser moderne Wahn nach sauberem Essen, gesundem Leben, persönlicher Produktivität und der ‘radikalen Selbstliebe’ … Je angsteinflößender die wirtschaftliche Zukunft wirkt, desto öfter geht es in der öffentlichen Debatte um individuelle Erfüllung, als wäre das ein verzweifelter Versuch, uns einzureden, dass wir noch Kontrolle über unser Leben hätten. …
Kann all dieses positive Denken also schaden? Carl Cederström und André Spicer, Autoren des Buchs The Wellness Syndrom, sind davon überzeugt. Sie argumentieren, dass versessene Rituale zur Selbstsorge auf Kosten des gemeinschaftlichen Engagements gehen. So wird jedes soziale Problem zu einer persönlichen Frage. ‘Wellness’, sagen sie, ‘wurde zur Ideologie.’ …
Dank Camerons Änderungen im Sozialhilfesystem wurde Arbeitslosigkeit zur psychischen Krankheit. Wir befinden uns in der längsten und schlimmsten Rezession der Geschichte – dennoch sollten … Arbeitslose ihren ‘psychischen Widerstand‘ behandeln, indem sie Kurse besuchen, die ihnen helfen, ihrer Verelendung positiver gegenüber zu stehen. …
Die Wohlfühl-Ideologie ist ein Symptom einer breiteren politischen Krankheit. … Wir sollen glauben, dass [allein] Arbeit [an uns selbst] unser Leben verbessern kann. …
Die Wellness-Ideologie … überzeugt … uns davon, dass es kein wirtschaftliches Problem ist, wenn wir krank, traurig und erschöpft sind. … Die Gesellschaft ist nicht verrückt oder kaputt: Du bist es. … [Diese Ideologie] hindert … uns daran, eine breitere, kollektive Reaktion auf Armut, Ungerechtigkeit und die kriselnde Arbeitswelt zu finden. …
Alles, was du brauchst, um dein Leben zu ändern, sind ein paar Mantras und ein Terminkalender. Ähnlich beruhigend war einmal der Gedanke: Die Entbehrungen dieser Existenz werden eines Tages im Himmel belohnt. Es gibt einen Grund, warum die Wohlfühlpraktiken so gut strukturiert sind wie Kulte (tu dies und du wirst gerettet; tu dies und du bist sicher): Sie sind ein Glaubensritual. …
Nachdem die Wohlfühl-Sprache vor allem von der politischen Rechten bedient wird, ist es nicht verwunderlich, dass [bei] fortschrittliche[n], liberale[n] und linke[n] Gruppen … positives Denken [vollkommen aus der Mode geriet] …
Die ängstliche Jugend scheint [heute] die Wahl zu haben zwischen verzweifeltem Narzissmus und niederschmetterndem Elend. Was ist besser? …
Das Problem mit der Selbstliebe, wie wir sie gerade verstehen, ist, dass wir Liebe an sich zu einfach definieren, mit Herzchen und Blumen, Fantasie[,] … rituellem Konsum [und herzloser Leidenschaft]. Die Moderne macht uns zu betrübten, ein bisschen gruseligen [Selfie-nehmenden] Teenagern, die sich selbst sagen, wie besonders und perfekt sie sind. Das ist … [aber gar keine echte] Selbstliebe …
Die härtere, langweiligere Art der Selbstsorge besteht aus täglichen, unmöglichen Mühen, aufzustehen und durch das Leben zu kommen, in einer Welt, die dich lieber niedergebückt und angepasst sieht. … Echte Liebe… ist kein Gefühl, sondern … eine Handlung. Es geht darum, was du für andere tust – über Tage, Wochen und Jahre. Es ist die Art der Liebe, die wir uns am wenigsten zugestehen, gerade in der politischen Linken.
Die meisten Linken könnten viel von der Queer-Community lernen, [für die schon lange] … für sich selbst und für ihre Freunde [zu sorgen nicht ein Nebenaspekt des Kampfes ist, sondern in vielerlei Hinsicht der Kampf selber]. … Die Wohlfühl-Ideologie mag ausbeuterisch sein, und die Tendenz der Linken, Verzweiflung zum Fetisch zu erklären, ist verständlich, aber sie ist nicht akzeptabel. Wenn wir unsere Energie daran verschwenden, uns selbst zu hassen, wird sich nichts ändern. Wenn Hoffnung zu schwierig zu handhaben ist, dann können wir uns wenigstens um uns selbst kümmern. An meinen dunkelsten Tagen erinnere ich mich an die Worte der Poetin und Aktivistin Audre Lorde, die viel über das Überleben in einer unmenschlichen Welt wusste, und die schrieb: ‘Selbstsorge ist kein überflüssiger Luxus, es ist Selbsterhaltung, und die ist ein Mittel politischer Kriegsführung.'”
aus: Laurie Penny: Die Wohlfühl-Lüge, ZEIT-Online, 19.7.16 [im Internet], habe mir erlaubt die ZEIT-Übersetzung anhand des englischen Originals ein wenig zu verbessern :-)
Abb.: Renzo Martens: Enjoy poverty, 2009, im Internet.
07/16