Steckdosen
“Jahrelang wurde sie schlichtweg übersehen. In Cafés, Bibliotheken, Rathäusern oder Universitätsfluren waren sie wohl nur deshalb da, damit ab und zu jemand einen Staubsauger betreiben konnte. Heute sind diese Steckdosen so etwas wie öffentliche Brunnen geworden, an denen der Durstige Rast macht. Er setzt sich oft gleich neben die Steckdose auf den Fußboden. Sie ist ja meist nah am Boden angebracht, einen Stuhl gibt es nicht neben dieser Steckdose, weil sie nie für diesen Zweck vorgesehen war, und das Kabel ist gewöhnlich kurz. Man begibt sich also, “steckdosensüchtig” (wie es die Zeitschrift Neon kürzlich nannte), in den Schneidersitz. So kann man das Telefon während des Ladevorgangs auch gleich benutzen, denn alleine lassen will man sein iPhone in der Bibliothek auf keinen Fall. Die kauernde Haltung auf dem Fußboden, sie passt zu der Situation, in der der akkuleere Mensch sich befindet: eben noch in Not, nun gerade gerettet.”
aus: Matthias Stolz: Gib mir Saft! Zeit-Online, 28.9.16 [im Internet]
09/16