Demokratie, Versprechen der
“[Es] scheint … mir … sinnvoll, die Überlegung auf den Unterschied zwischen den demokratischen Idealen und der ‘realen Demokratie’ zu konzentrieren. … Von diesen nicht eingehaltenen Versprechen der Demokratie nenne ich sechs. …
[1.] Die Gruppen und nicht die Individuen sind die Protagonisten des politischen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft von heute. … Das auf die Volkssouveränität gegründete Modell des demokratischen Staates, das man sich in Analogie zur Souveränität des Fürsten vorstellte, war das Modell einer monistischen Gesellschaft. Die reale Gesellschaft, die den demokratischen Regierungen zugrundeliegt, ist pluralistisch. …
[2.] [Der] endgültige Sieg der Repräsentation von Sonderinteressen über die politische Repräsentation. … Für dieses System charakteristisch ist ein Dreiecksverhältnis, in dem die Regierung … nur noch als Vermittler zwischen den gesellschaftlichen Gruppen interveniert sowie allerhöchstens noch als (in der Regel ohnmächtiger) Garant für die Einhaltung der geschlossenen Abkommen. …
[3.] Das Übermaß an Partizipation, das zum von Dahrendorf so genannten und beklagten Phänomen des ‘totalen Bürgers‘ führt, kann zum Überdruß´an der Politik und zu wachsender Apathie der Wähler führen. Oft ist die Gleichgültigkeit vieler der Preis, den man für das Engagement weniger zahlen muß. …
[4.] Wenn man wissen will, ob in einem gegebenen Land eine Entwicklung der Demokratie stattgefunden hat, so sollte man nicht danach Ausschau halten, ob die Anzahl derjenigen gestiegen ist, die zur Beteiligung an den sie betreffenden Entscheidugen berechtigt sind, sondern danach, ob die Anzahl der Räume oder Bereiche gewachsen ist, in denen man dieses Recht ausüben kann. Solange in einer fortgesetzten Industriegesellschaft die beiden großen Blöcke einer Macht von oben, das Unternehmen und der Verwaltungsapparat, noch nicht vom Prozeß der Demokratisierung ergriffen wurden – wobei wir hier das Urteil darüber, ob dies nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist, suspendieren -, kann der Prozeß der Demokratisierung noch nicht als abgeschlossen gelten. …
[5.] Kein antiker Despot, kein absolutistischer Monarch der frühen Neuzeit, und wenn er sich mit Tausenden von Spionen umgab, war jemals in der Lage, all die Informationen über seine Untergebenen zu besitzen, die heute die demokratischsten aller Regierungen aus dem Gebrauch der elektronischen Datenverarbeitung ziehen kann. … Eine Entwicklungstendenz, die den Prämissen der Demokratie zuwiderlief: … die Tendenz, die nicht zur maximalen Kontrolle der Macht durch die Bürger hinführt, sondern im Gegenteil zur maximalen Kontrolle der Untertanen seitens der Macht. …
[6.] Auch die wohlwollendsten Interpretationen können mir nicht den Gedanken daran rauben, daß sich die großen demokratischen Schriftsteller schwer daran täten, in der Weigerung vieler Bürger, ihr Recht auf politische Beteiligung zu gebrauchen, eine Frucht der Erziehung zur Bürgerschaft zu erblicken. …
Von nicht eingehaltenen Versprechen sprach ich. Aber waren es denn Versprechen, die eingehalten werden konnten? Ich würde sagen, nein. … Das politische Projekt der Demokratie [wurde] doch für eine Gesellschaft von sehr viel geringerer Komplexität entworfen, als es die heutigen Gesellschaften sind. Die Versprechen wurden nicht eingehalten aufgrund von Hindernissen, die man entweder nicht vorhergesehen hatte oder die im Gefolge der ‘Transformationen’ der (bürgerlich-zivilen) Gesellschaften hinzukamen. … Ich nenne drei socher Hindernisse. …
[1.] Die Demokratie beruht auf der Hypothese, daß alle über alles entscheiden können. Die Technokratie geht im Gegensatz dazu davon aus, daß nur die wenigen zur Entscheidung berufen sind, die von der Materie etwas verstehen. …
[2.] Der Bürokratisierungsprozeß war in hohem Maße ein Ergebnis des Prozesses der Demokratisierung. …
[3.] Außerdem steht die Geschwindigkeit, mit der die Forderungen seitens der Bürger an die Regierung gestellt werden, im Kontrast zur Schwerfälligkeit, mit der es die komplexen Verfahren eines demokratischen Systems der politischen Klasse erlauben, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. …
Nichtsdestotrotz … auch die von ihrem Ideal am weitesten entfernte Demokratie kann keinesfalls mit einem autokratischen und noch weniger mit einem totalitären Regime verwechselt werden. … Die so oft verlachten formalen Rechte der Demokratie haben zum ersten Mal in der Geschichte Techniken zur Lösung sozialer Konflikte ohne den Rekurs auf die Gewalt eingeführt. …”
Noberto Bobbio: Die Zukunft der Demokratie. In: ders.: Die Zukunft der Demokratie. Berlin: Rotbuch 1988, S.7-33.
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