DER SPIEGEL
“Unter der Drapierung durch … [den SPIEGEL-]Jargon sind weder die Züge Goethes noch die von Dylan Thomas wiederzuerkennen. … Was den SPIEGEL-Text von jeder anderen Fassung des Sachverhaltes unterscheidet, ist … nicht nur dessen Trübung durch Jargon und verstecktes Vorurteil, sondern auch seine angestrebte Humorigheit. …
Story und Nachricht schließen einander aus. … Sein Ruf als der eines wohlunterrichteten Blattes hat darunter nicht gelitten. Das mag … daran liegen, daß sich DER SPIEGEL die Informationen, die er verarbeitet allerhand kosten läßt. …
Die Spezialisten im SPIEGEL-Archiv sind im Grunde die einzigen, die vermöge ihres Trainings in der Lage sind, den Informationsgehalt des Blattes zu analysieren. … Als falsch gilt in diesem Verstand nur eine Behauptung, die zu einem Rechtsstreit führen kann, der für die Zeitschrift aussichtslos wäre. …
[Wer meint], Informationen von öffentlichem Interesse ließen sich nur zwischen den Zeilen publizieren, … hält Zensur für eine Selbstverständlichkeit und hat sich mit ihr schon abgefunden. …
Das Blatt hat keine Position. Die Stellung, die es von Fall zu Fall zu beziehen scheint, richtet sich eher nach den Erfordernissen der Story, aus der sie zu erraten ist; als deren Pointe. … Wer nicht bereit ist, Stellung zu beziehen … der schränkt seine Kritik von vorneherein auf bloße Taktik ein. … Was dem SPIEGEL an kritischer Potenz fehlt, versucht er durch inquisitorische Gestik zu ersetzen. …
Moralisch entlastet das Verfahren den Konsumenten. … Intellektuell klärt es ihn über seinen faktischen Zustand, den der Ignoranz, keineswegs auf. …
- Die Sprache des SPIEGEL verdunkelt, wovon sie spricht.
- Das deutsche Nachrichtenmaganzin’ ist kein Nachrichtenmagazin.
- DER SPIEGEL übt nicht Kritik, sonden deren Surrogat.
- Der Leser des SPIEGEL wird nicht orientiert, sondern desorientiert.
Jedes Volk … verdient die Presse, die es nötig hat. Daß wir ein Magazin vom Schlage des SPIELGEL nötig haben, spricht nicht für das Blatt, das die Masche zu seiner Moral gemacht hat; es spricht gegen unsere Presse im ganzen, gegen den Zustand unserer Gesellschaft überhaupt; es spricht mit einem Wort, gegen uns.”
aus: Hans Magnus Enzensberger: Die Sprache des “SPIEGEL”. [1957], hier zitiert nach: H. Mayer: Deutsche Literaturkritik, Bd.4, Frankfurt(Main) 1983, S.544-566.
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