Diskussion
“Seit der ‘Protestbewegung’ der späten 60er Jahre heißt diskutieren bekanntlich soviel wie Demokratie üben, und zwar in jeder Lebenslage. Wer Diskussion verweigert, hat sich damit als autoritär entlarvt. Da umgekehrt der Wille zur Diskussion schon ein politisches Bekenntnis ist, erübrigt sich fast der Vollzug der Diskussion im Sinne des Austragens von Meinungsverschiedenheiten.
Konsequent sagt man nicht mehr über etwas diskutieren sondern: etwas diskutieren (‘das müssen wir mal diskutieren’), etwa im Sinne von etwas beschwören, beteuern, rituell bekräftigen. Verstärkte Form: etwas politisch diskutieren (bis ca. 1972; heute veraltet) oder etwas inhaltlich diskutieren (bis ca. 1976; heute nicht mehr hinreichend).
Die zunehmende Entpolitisierung des Verbs drückts sich darin aus, daß es wieder möglich ist (seit etwa fünf Jahren), ‘kontrovers’ zu diskutieren, was ja die alte Bedeutung von diskutieren war (beliebte Form: ‘etwas diskutieren, und zwar kontrovers’). …
[Der Ausdruck hat] alle Konkurrenzausdrücke – über etwas reden oder sprechen, etwas bereden, erörtern, beraten; über etwas streiten, debattieren usw. in sich [aufgesaugt]. …
Die damit erreichte Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Kommunikation erlaubt und erfordert nun wieder Differenzierungen, z.B.: etwas methodologisch / inhaltsspezifisch / praxisrelevant diskutieren; etwas abschließend oder ein Stück weit diskutieren; etwas durch-, aus-, oder andiskutieren …”
Klaus Markus Michel: Der Grundwortschatz des wissenschaftlichen Gesamtarbeiters seit der szientifischen Wende. In: Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur “Geistigen Situation der Zeit“, Bd.2: Politik und Kultur. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1979, S.824.