Emanzipation 1
“Wie es so oft geschieht, wurde die Schlacht eher zufällig gewonnen – ohne gezielten Kampf oder ein Programm. Keine der alten Apostel der Frauenrechtsbewegung hätte einen so verschlafen-benommenen Siegeszug ihrer Ideale erträumt. Der große Zauberer, der diesen Wechsel vollbrachte, war die Inflation. …
Der Krieg zerstörte die konventionelle Sexualmoral … als die Männer aus dem Krieg zurückkehrten; in Berlin und später in allen großen Städten kam … [die Liquidation] in der Form von Kostümbällen an, in denen all das Begehren einer lange unterdrückten Vitalität mit orgiastischer Vehemenz ausbrach. In jenem Winter wurde die alte Moral von Konfettischlangen unter Begleitung von Geigen und Klarinetten erdrosselt. Die neuen Prinzipien waren einfach genug: wir wollen leben, und das Leben ist kurz …
Dann kamen die drei Jahre der Inflation, … sie enteignete die Schicht, die seit einem Jahrhundert der Träger der deutschen Zivilisation gewesen war und ihre ethischen Normen zu Gesetzen kristallisiert hatte. Vermögen zerbrachen zwischen Morgen und Abend. … Dann marschierte eine neue, erbärmliche Armee von Parvenüs auf diesem Ruin wie in eine eroberte Stadt und zog die Frauen aus den eroberten Häusern wie Marketenderinnen mit sich. Es gab einen nie dagewesenen Ausverkauf der gesammelten Moralvorstellungen eines Jahrhunderts. Gute, stabil verheiratete Frauen, die die Last tragen mußten, ihre Familie am Leben zu halten, verkauften sich für bare Münze, und ihre Ehemänner schauten weg, sofern sie nicht selbst das Management dieses Geschäftes übernahmen. Wohlbehütete Mädchen, in deren Gegenwart niemals ein unziemliches Wort gesprochen worden war, verkauften sich; ihre Eltern schwiegen, sofern sie nicht zu Kupplern wurden. …
Heute hat sich der neue Status etabliert. Frauen sind ein inniger Bestandteil des industriellen Lebens und selbst jene, die es nicht nötig hätten, suchen sich einen Beruf. Das gute, nichtstuende Heimchen, das herumgeführt wurde von der heiligen Allianz der Tanten und Verwandten und auf einen Ehemann nach Wahl ihrer Eltern warten mußte, ist gänzlich verschwunden. Die Zahl der Ehefrauen, die so von ihren Ehemännern abhängig sind, daß sie deren üble Launen aushalten müssen, ist deutlich zurückgegangen. Einen außerordentlich großen Zuwachs gab es bei der Zahl der freien Verbindungen, die ohne große äußerliche Schwierigkeiten gelöst werden können. Der Trend zu erotischer Selbstbestimmung hat bei den Frauen den Sieg davongetragen…”
Carl von Ossietzky, Die Revolte der deutschen Frauen, ursprünglich auf englisch erschienen in The Nation, 7.1.1928. Hier übersetzt durch Dirk Grathoff, in: Carl von Ossietzky Lesebuch, Reinbek: Rowohlt, 1994, S.174/175.
Abb.: Frans Masereel: Die Stadt. 1925.
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