Abraham
“Lange fand ich das Ungeheure, das Abstoßende, das Bedrohliche des Glaubens – des Glaubens an nur einen Gott – im zweiundzwanzigsten Kapitel des ersten Buches Mose zwischen dem zweiten und dem dritten Vers. … Der zweite lautet: ‘Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast und geh hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich sagen werde.’ Der dritte: ‘Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte.’ Und dazwischen: nichts. Kein Zögern, kein Nachfragen, kein Bekümmertsein um den Sohn, kein Mitleid mit seiner Frau, keine Rücksicht überhaupt auf ein irdisches Urteil. Er hätte es ohne Wimpernzucken getan. …
Was könnte Liebe weniger wollen, als dem eigenen Kind die Kehle durchzuschneiden? Hier ward das Gefühllosste zum Inbegriff des Gottgefälligen erklärt. Erst Caravaggio brachte mich dazu, auch den Abgrund anzunehmen, der sich zwischen dem zweiten und dem dritten Vers auftut. …
Der Engel muß ihm fest in den Unterarm greifen, damit Abraham das Messer nicht … an den Hals des Jungen legt …
Ich behaupte …, daß die Geschichte von der Abschaffung des Menschenopfers erzählt, die für den Glauben an nur einen Gott unabdingbar war. Nicht, daß er es getan hätte – daß er es nicht tun durfte, ist ihr Kern. …”
aus: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München: Beck Paperback 2017 (geb. 2015), S. 199-203.
08/17