MALTE WOYDT

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Gegenwart 1

“Vor allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft noch Vergangenheit; diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntnis da, sofern sie dem Satz zum Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt und in der Gegenwart wird nie einer leben, sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch kein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. …

Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie, und dasselbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. … reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. …

Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart; wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. …

… und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft nach dem Tode zu forschen, vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen; sie wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch nicht.”

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Halle: Hendel o.J. (1859), I,§54

08/10/2007 (11:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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