Selbstsucht
“Wie kann man es miteinander in Einklang bringen, daß [der Mensch sich] objektiv gesehen … in den Dienst von Zielen stellt, die nicht die seinen sind [Gott, dem Kapital …], und trotzdem subjektiv der Meinung ist, er diene seinem Selbstinteresse? Wie kann man den Geist des Protestantismus und dessen Forderung der Selbstlosigkeit mit der modernen Doktrin des Egoismus vereinbaren, der nach Machiavelli der stärkste Antrieb des Menschen ist, stärker als alle moralischen Erwägungen …?
Die den Gedanken von Luther und Calvin wie auch von Kant und Freud zugrunde liegende Annahme ist, daß die Selbstsucht mit der Selbstliebe identisch sei. … die Liebe zu anderen und die Liebe zu sich selbst [schlössen sich] gegenseitig aus.
Wir begegnen hier einem theoretischen Trugschluß in Bezug auf das Wesen der Liebe. Die Liebe wird nicht primär durch ein bestimmtes Objekt ‘hervorgerufen’, sondern es handelt sich dabei um eine im Menschen bereitliegende Eigenschaft … Haß ist der leidenschaftliche Wunsch zu zerstören; Liebe ist eine leidenschaftliche Bejahung …, ein tätiges Streben … [dessen] Ziel das Glück, das Wachstum und die Freiheit ihres Objektes ist. …
Die Liebe zu einer bestimmten Person impliziert die Liebe zum Menschen als solchem. …
Selbstsucht ist nicht dasselbe wir Selbstliebe, sondern deren genaues Gegenteil. Selbstsucht ist eine Art Gier. … Wer sich nicht leiden kann … besitzt nicht die innere Sicherheit, die nur auf dem Boden einer echten Liebe zu sich selbst und der Bejahung der eigenen Person gedeihen kann. Er muß sich ständig mit sich [selbst] beschäftigen voller Gier, alles für sich zu bekommen, da er von Grund auf unsicher und unbefriedigt ist. …”
aus: Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1980 (US-amerik. Originalausgabe 1947), S. 95-97.
Abb.: Dawn Woolley: Host Figures (The Live) 2019 (Detail: Host Figure 1), im Internet.
02/18