Normalität 1
“Man kann den Begriff ‘normal‘ oder ‘gesund’ auf zweierlei Weise definieren. Erstens kann vom Standpunkt einer funktionierenden Gesellschaft aus den als normal oder gesund bezeichnen, der imstande ist, die ihm zufallende Rolle in der betreffenden Gesellschaft zu erfüllen. … Zweitens verstehen wir vom Standpunkt des Individuums aus unter Gesundheit und Normalität ein Optimum an Wachstum und Glück.
Wenn eine bestimmte Gesellschaft so strukturiert wäre, daß sie dem einzelnen eine optimale Möglichkeit zu seinem Glück böte, so würden beide Standpunkte sich decken. In den meisten uns bekannten Gesellschaften … ist das jedoch nicht der Fall. … Wir müssen daher scharf zwischen beiden Auffassungen von ‘Gesundheit’ unterscheiden. … Leider wird diese Unterscheidung oft nicht gemacht. Für die meisten Psychiater ist die Struktur ihrer Gesellschaft etwas … Selbstverständliches … .
[Als] Neurotiker … [kann man] einen Menschen charakterisieren, der nicht bereit ist, im Kampf um sein Selbst völlig die Waffen zu strecken … Vom Standpunkt der menschlichen Werte aus [ist er] weniger verkrüppelt als der Normale, der seine Individualität völlig eingebüßt hat. …”
aus: Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1980 (US-amerik. Originalausgabe 1947), S. 113/114.
Abb.: Maria Indriasari: Trapped in A Form 1, 2012, indoartnow, im Internet.
02/18