MALTE WOYDT

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Grenzregionen

“… Es gibt zum Beispiel ein Stereotyp der Grenzregionen (das sogar im Augenblick in Mode kommt), das dem Stereotyp der Nation entgegengesetzt wird, das heißt der Verschlossenheit in sich selbst, der Xenophobie usw. Das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, Sprachen, Dialekte trägt sehr schöne Früchte. Als Beispiele eignen sich Triest oder Wilna oder das tschechische Prag, als die tschechische, deutsche und jüdische Kultur und vielleicht noch einige andere Kulturen miteinander in Kontakt standen, oder auch das kaiserlich-köngliche Wien usw. Dieses Stereotyp faßt natürlich einige tatsächliche Merkmale, vielleicht sogar den Kern der Sache, aber auch dieses Stereotyp muß man sprengen – Grenzregionen erweisen sich sehr oft als Mythos. Oft handelt es sich um taube, mit Brettern vernagelte Provinz, der die Menschen nur entkommen wollen …

… Wenn man in einer solchen mit Brettern vernagelten Welt aufwächst, wie das damals Wilna war, wie es die ganze Sowjetunion war, aber Wilna als kleine Stadt besonders, dann regt sich in einem etwas, was Mandelstam die Sehnsucht nach der Weltkultur genannt hat. Diese Sehnsucht hat im Grunde positive Folgen. Man beginnt, sich für etwas zu interessieren, was über die Grenzen der eigenen Erfahrung herausreicht. … Ich entdeckte auch, daß die großen russischen Dichter viel würdiger mit dem Regime kämpften als meine Mitbürger. … Im Jahr 1956 fand ich Zugang zur polnischen Sprache … Diese Zeitschriften waren im Vergleich mit der litauischen und russischen Presse enorm interessant. … Einer meiner Freunde führte mich damals in die Werke von Mrozek und Gombrowicz ein … Hier lernte ich wiederum viel: vor allem den ironischen Blick auf die eigene Nationalität … Ich meine den Spott, der in Litauen sehr fehlte und bis heute fehlt. In Litauen herrscht ein frommes Verhältnis zum Litauertum … In der Unabhängigkeit wird das vermutlich vergehen, aber dazu bedarf es der Schriftsteller, die Mythen einreißen, Schriftsteller eben wie Gombrowicz. Die sind aber bei uns noch nicht zu sehen.”

Tomas Venclowa. In: Teresa Walas (Hg.) (1999): Stereotypen und Nationen. Krakau: Miedzynaradowe Centrum Kultury, S.342-346.

08/10/2007 (11:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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