MALTE WOYDT

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Handeln

“‘Wissen Sie, wo der Unterschied zwischen Ihnen und David besteht? … David hat eine wirkliche Schleuder gebraucht, während Sie einen Artikel veröffentlichen wollen, der nachweist, wie böse Goliath ist.’

‘Aber der Artikel ist meine Schleuder!’

‘Das ist Ihr Trugschluß! Er ist nichts als ein Stück Literatur … Sie, Pierre, sind ein Opfer gewisser falscher Lehren über die Demokratie. Zu diesen Irrlehren gehört der Glaube an die Presse und an die unmittelbare Wirkung der Literatur. Man hat Ihnen gesagt, Freiheit sei identisch mit Pressefreiheit … Es ist eine Illusion, mit der man Gutgläubige täuscht und sie veranlaßt, zu schreiben und zu lesen, anstatt zu handeln, selbst wenn ein Gegner vor ihnen auftaucht, für den die Worte wie Freiheit, Schreiben und Lesen überhaupt nicht existieren. Man delegiert das, was man zu tun hätte, an die Presse. Handeln – das bedeutet: irgendwo fließen Lettern aus einer Setzmaschine.’

‘Ich danke Ihnen, Mondello, Sie befreien mich von meiner letzten Hemmung.’

‘Hemmung wovor?’

‘Ich steige aus. Ich habe es vorhin schon Solange mitgeteilt.’

‘Was, Sie wollen jetzt kneifen, Pierre?’

‘Sie überzeugen mich doch selbst von der Nutzlosigkeit alles dessen, was ich bisher gedacht habe. Oder nicht?’

‘Aber doch nur, damit Sie sich überlegen, ob nicht etwas getan werden könnte, das Sinn hat.’

‘Es gibt nichts dergleichen. Wir leben in einer Welt der falschen Alternativen. Ich kann keine der Faktionen wählen, die heute miteinander kämpfen. Auch nicht das kleinere Übel. Das kleinere Übel ist für mich das größte. Ich gebe zu, daß ich bis heute abend an eine dritte Kraft geglaubt habe: die Öffentlichkeit. Sie haben mir diese Illusion genommen. …

‘Ich achte Ihren Entschluß, Pierre. Vielleicht ist es gut für Sie, wenn Sie eine Weile fortgehen. Fortgehen, um zu erkennen, daß Freiheit nicht bedeutet, irgendeine Ideologie wählen zu können, sondern das Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft. … Es gibt ein ganz sicheres Erkennungszeichen des Unrechts: dort, wo nichts mehr Sie auffordert zu schreiben, wo nur ein einziger Gedanke Sie beherrscht: zu handeln, nichts als zu handeln: dort ist es, wo das Böse herrscht.’

‘Mondello, geben Sie der Literatur denn gar keine Chance mehr?’

‘Nicht der Literatur, die Sie meinen, Pierre. Jener Sekundär-Literatur, die sich für die Geschichte selbst hält, weil sie sich aufregt und diskutiert. Sie ist nur Symptom, nichts weiter. Große Literatur tut etwas anderes: sie breitet lange und langsame Entwicklungen vor, sie streut in ein paar Gedanken und ein paar Formen Samen aus, die die Welt erneuern und sie an etwas Altes erinnern: Augustinus hat das getan, Pascal, Spinoza, Marx, Kafka…'”

Alfred Andersch: In der Nacht der Giraffe. In: ders.: Gesammelte Erzählungen. Zürich: Diogenes 1971, S.150-154.

Abb.: Joseph Kossuth: Words are Deeds, 1991.

08/10/2007 (11:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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