Antimoralismus
“… ‘Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‘”, dieser berühmte Satz aus Brechts Dreigroschenoper will nicht das unmoralische Verhalten der Armen und Unterdrückten entschuldigen, er ist vielmehr ein Vorwurf an die Mächtigen. Diese könnten sich ihre tugendhaften Predigten nur deshalb leisten, weil sie von einer zutiefst ungerechten Gesellschaftsordnung profitierten. …
… diese Kritik bleibt … relevant. Ein Statussymbol der gegenwärtigen Mittelschicht ist zum Beispiel der bewusste, ethische Konsum. …[Aber] diese kleinen, privaten Akte der Tugendhaftigkeit [sind] nur ein Tropfen auf den heißen Stein der globalen Wirtschaftsordnung. … Der unpolitische, privatistische Moralismus der Mittelschicht gibt sich engagiert und kritisch, dient dabei aber auch und vor allem dem psychologischen Nebeneffekt der Gewissenserleichterung. … Die “liberalen Eliten” … sind gegen Diskriminierung von Migranten, aber nicht gegen den Niedriglohnsektor, in dem viele Migranten arbeiten. …
Wie passen … [aber] die Texte der Aufstehen-Initiatoren in dieses Schema? … [Sie] kritisieren [gar] nicht, sondern affirmieren vielmehr die gängigsten rechtspopulistischen Argumentationsmuster. … Es ist ein gefährlicher Irrtum, die rechten Antimoralisten beim Wort zu nehmen: als ginge es diesen Leuten nur um eine emotionsfreie, rationale, offene Debatte und eine “realistischere” Staatspolitik. Der antimoralistische Affekt der Rechtspopulisten ist keine Reaktion auf den Hypermoralismus der Eliten, denn diesen gibt es überhaupt nicht. … die Forderung, dass in Zukunft wieder einmal Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kommen sollen, ist und war immer eine völlig marginalisierte Außenseiterposition. …
Was es durchaus gibt in unserer Gesellschaft, ist ein Konsens über gewisse liberale Grundsätze. Zum Beispiel soll jeder Mensch vor Diskriminierung geschützt werden und möglichst gleiche Chancen erhalten, etwas aus seinem Leben zu machen. Auch allgemeine Menschenrechte und das grundsätzliche Recht, Asyl zu beantragen, gehören noch zu diesem gesellschaftlichen Übereinkommen. Diese Moral zu überwinden, ist die Absicht der Rechten. …
Der angebliche Moralismus der Eliten, ihr Getue um Menschen- und Minderheitenrechte, bedeutet aus … [der] Perspektive [der Rechtspopulisten], dass ihnen die Interessen des ‘wahren Volkes‘ eben nicht so wichtig seien, dass sie sich mehr um Ausländer, Schwule, Schwarze oder Roma kümmern als um die ‘normalen Menschen’.
Wer in diesem Kontext als Linker behauptet, dass die moralischen Exzesse des Establishments eine Bedrohung für die Armen und Abgehängten seien, sollte sehr genau überlegen, was er da macht. Einem linken Aufbruch dient das jedenfalls nicht.”
aus: Johannes Simon: Die eigenen Privilegien stressfreier genießen, Die Zeit, 8.9.18, im Internet.
09/18