Herakles II
“Daß es immer diese riesigen, feuerschnaubenden, vielleibigen, vielköpfigen Wesen sind, die auf ihn zukommen oder die er aufstöbert in abseitigen Gefilden, spricht davon, daß er mehr in seinen Träumen als im Alltäglichen verhaftet war. … Die uns überlieferte Vielzahl seiner Taten, die ihn so berühmt machte, ist einem Stundenbuch gleich, einer Serie von Votivbildern, auf denen die einzelnen Stationen vermerkt sind, wir, wie auch die Historienerzähler vor uns, haben darin die Gestalt eines Helfers in der Not, eines Retters erkannt, der für seine Tapferkeit mit höchstem Glück belohnt wurde. Was aber, fragte ich mich, war das für ein Glück. War es das Glück darüber, daß nun beßre Zeiten gekommen, und die meisten Greuel und Verheerungen abgewendet worden waren. Keinesfalls. Nun begann es erst recht mit den Kriegen, und das Darben wuchs in den Städten. Daß er, nachdem er sich auch mit einem gewöhnlichen Tod nicht begnügen konnte, sondern unter unfaßbaren Qualen zugrunde ging, von den Göttern wieder aufgenommen wurde und fortan entrückt dem Olymp angehörte, machte ihn mir verdächtig. Warum sahn die Höchsten ihn am Ende als ihresgleichen an, wenn nicht deshalb, weil er nichts getan hatte, um ihre Stellung zu erschüttern, ja weil es ihm eigentlich nur gelungen war, den Glauben an übermenschliche, das heißt göttliche Fähigkeiten zu verbreiten. … Die Unklarheit, die er hinterließ, führte wohl auch dazu, daß grade jene, die wir für seine Widersacher hielten, ihn für sich in Anspruch nahmen. Den Handelsherren, den Bankleuten, allen, die nach Gewinn, nach Erfolg trachteten, wurde er zum Schutzheiligen, der Schlemmerei, der Libertinage wurde er zum Vorbild, die Notleidenden wußten nur noch wenig mit ihm anzufangen. Hinzu kam, daß er zum Inspirator des Kolonialismus wurde, mit ihm begann das Zeitalter der griechischen und ionischen Ausfahrten übers Meer bis zum Ende der Welt, seine Schilderungen des Reichtums fremder Länder hatten die Begüterten, die Unternehmer dazu verlockt, ihr Geld im Schiffsbau zu investieren und sich die fernen Bodenschätze zu erschließen.”
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes. Werke in sechs Bänden, Dritter Band, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1991: S.315/316.