MALTE WOYDT

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Putin 1

“Ja, man bekommt das Kernproblem von Putins Russland tatsächlich ausgezeichnet mit [Tschechows] ‘Onkel Wanja’ zu fassen: Der Wladimirowitsch des Stückes lässt ‘seit fünfundzwanzig Jahren … die letzten Tropfen aus (seinem) Gut’ herauspressen und ist peinlich darauf bedacht, die ‘mehr oder minder ständige Einkunftsquelle’ nicht versiegen zu lassen. Aber er bewirtschaftet sein Land nicht produktiv, seit die alte, stehende Zeit (der Feudalwirtschaft) untergegangen ist: ‘Hätte man an Stelle (der) abgeholzten Wälder eine Chaussee angelegt oder eine Eisenbahnlinie’, klagt Astrow, ‘hätte man hier Fabriken und Schulen gebaut, wäre das Volk gesünder, wohlhabender und klüger. Aber nichts dergleichen’ geschah.

Stattdessen presst der echte Wladimirowitsch im Kreml seit zwanzig Jahren die letzten Tropfen Gas und Öl aus der russischen Erde, um sich mit den Erträgen von seiner postsowjetischen Belastungsstörung zu kurieren und seinen russifizierten Zarenreichsfantasien nachjagen zu können. … Sieben der zehn größten Unternehmen Russlands verdienen ihr Geld mit der Erschließung und Ausbeutung von Öl und Gas. … Kein einziges der Top-25-Unternehmen in Russland entwickelt avancierte Technologie oder Produkte, die am Weltmarkt nachgefragt wären. … Der Anteil von Maschinen an den Ausfuhren beträgt gerade mal 2,5 Prozent. Rechnet man allein Öl und Gas aus der Handelsbilanz heraus, fällt Russland als Exportnation schnell auf das Niveau von Zehn-Millionen-Einwohner-Staaten wie Tschechien, Österreich und Schweden zurück. Rechnet man auch die Bodenschätze heraus, befindet sich Russland auf Augenhöhe mit der Slowakei und Griechenland. Kurz: … Wer mit der Zukunft seines Landes nichts anzufangen weiß, sucht sein Heil in der Glorifizierung der Vergangenheit.

Für den Moment besonders problematisch ist dabei Russlands politische Rolle rückwärts. Putin hat den USA und der Nato zwei Vertragsentwürfe präsentiert, die auf eine Reißbrett-Revision der europäischen Geschichte seit 1989/90 hinauslaufen. Die Nato darf keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen, weder Finnland noch Schweden und Österreich, die nicht mal eine Grenze mit Russland teilen? Putins Gesprächsangebot … ist in Wirklichkeit ein Ultimatum: Willigen die USA nicht ein, Europa (wieder) in Einflusssphären zweier Großmächte aufzuteilen, müsse Russland das als Akt der Aggression verstehen …

Klarer als Putins Russland kann man seine Verachtung für die ‘Charta von Paris’ nicht ausdrücken. Die Unterzeichner des Vertrags, auch Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, haben sich 1990 verpflichtet, aller Androhung und Anwendung von Gewalt gegen ‘die territoriale Integrität’ und ‘politische Unabhängigkeit eines Staates‘ zu entsagen – und das ‘Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen’ anerkannt. Jetzt spricht Putin nicht nur der Ukraine und postsowjetischen Staaten wie Armenien und Georgien, sondern ex post auch EU-Ländern und Nato-Mitgliedern ihr Selbstbestimmungsrecht ab: Kein europäischer Staat soll mehr Truppen oder Ausrüstung in andere europäische Staaten verlegen können, die nicht zum Stichtag der Nato-Russland-Akte (1997) Mitglied des Verteidigungsbündnisses waren? Damit wären etwa die baltischen Staaten, aber auch Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien (Beitritt im März 2004) militärisch auf sich allein gestellt. …

Putin … sieht in den Neunzigerjahren keine Zugewinne für die Freiheits-, Bürger– und Menschenrechte in Europa, sondern eine Schmach für Russland – und verachtet alle, die am Zerfall der Sowjetunion beteiligt waren …

… Man braucht Lösungen fürs 21. Jahrhundert und verhandelt mit einem Potentaten, der sein Land ökonomisch fesselt, politisch zurück ins 20. Jahrhundert strebt und kulturell noch hinter Peter den Großen und seine frühaufklärerische, pro-europäische Reformen zurückfällt: heim ins ‘Moskauer Reich‘ sozusagen, in einen russifizierten Staat der Zaren und Bojaren, gestützt von einer im Mittelalter wurzelnden Tradition der russisch-orthodoxen (National-)kirche.

Während die mindestens genauso geschichtsstolzen Kader in China ihr Land der Zukunft förmlich entgegen treiben, die Wirtschaft des Landes innovieren und gehorsame Untertanen seit vier Jahrzehnten mit Wohlstandszuwächsen belohnen, fesselt Putin Russland mit einem ikonisierten Geschichtsbild und einer ‘fossilen Rentenökonomie’ (Ralf Fücks) an den alten Mythos von der leidensfähigen, russischen Seele: ‘Tiefe des Volksherzens’ (Dostojewski) statt zivilisatorischer Fortschritt, ökonomische Oblomowerei statt gründerselige Zukunftslust, politische Destruktion statt Kooperation: Es ist kein Zufall, dass sich Russlands technologische Modernität der übrigen Welt nurmehr durch Hyperschallraketen und Hackerangriffe mitteilt.”

aus: Dieter Schnaas: Einen Lindenblütentee für Gutsherr Wladimir! WirtschaftsWoche Online, 23.1.22, im Internet.

Abb: aus der Ausstellung Super Putin, Moskau 2017, im Internet.

01/22

24/01/2022 (0:04) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wahrscheinlichkeit

“Als möglicher Kandidat für den Titel ‘wissenschaftlich revolutionär‘ kommt die Idee der Wahrscheinlichkeit in Frage. Sie durchdringt das moderne Leben so sehr, dass sie gar nicht mehr bemerkt wird und wir uns keine Gesellschaft mehr vorstellen können, die ohne das dazugehörige statistische Denken auskommen könnte. …

Die mathematischen Voraussetzungen für ihre Berechnung gibt es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts … Carl Friedrich Gauß … [machte] eine seiner wichtigsten Entdeckungen, nämlich die so genannte ‘Normalverteilung’ …

Mit dieser Glockenkurve … wurde … ein völlig neuer Gedanke kreiert, der die Welt grundlegend veränderte. …

Erste statistische Gesetzmäßigkeiten bei natürlichen Erscheinungen wurden um 1820 festgehalten und bald danach gab es den ersten Kongress für Statistik. Zur gleichen Zeit wandten sich die Physik und die Biologie den Verteilungsgesetzen zu, am Ende des 19. Jahrhunderts trat mit …. Charles S. Peirce der erste Philosoph des Indeterminismus auf, und schließlich kam in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Quantenphysik, die im Innersten der atomaren Welt primäre Wahrscheinlichkeiten entdeckte und sonst nichts. …

Als Eckdaten müssen die Jahre 1800 und 1930 genannt werden, und wenn etwas weit über einhundert Jahre in Anspruch nimmt, fällt der Gedanke an eine Revolution schwer. Trotzdem hat sich unser Denken und Argumentieren grundlegend erneuert.”

aus: Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. O.O.: RM Buch und Medien 2002 (2001), S.374-376.

Abb: Irfan Hendrian: Isolation of Probability, 2012, indoartnow, im Internet.

01/22

21/01/2022 (20:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Mesokosmos

Für den Zwischenraum zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, in dem sich unser sinnliches Leben abspielt, hat der Wissenschaftsphilosoph Gerhard Vollmer den Ausdruck ‘Mesokosmos’ vorgeschlagen.

“Was räumliche Entfernungen angeht, so reicht der Mesokosmos vielleicht von der Dicke eines Haares bis zu der Strecke, die man in Verlauf eines Tages zurücklegen kann. Werden die Abstände kleiner oder größer, können wir unseren evolutionär erworbenen Fähigkeiten – unserem gesunden Menschenverstand – nicht mehr vertrauen und benötigen die Hilfe von Wissenschaft und Technik …

Was zeitliche Dimensionen angeht, so reicht der Mesokosmos vielleicht von der Dauer eines Herzschlages bis zum Zeitraum, den ein langes Leben dauern kann. … Alles, was kürzer dauert … oder länger … kann der gewöhnliche Verstand nicht fassen. …

Was Geschwindigkeiten angeht, so reicht der Mesokosmos vom Schreiten eines friedlichen Fußgängers bis zum Sprint eines professionellen Sportlers …

Man kann dieses mesokosmische Zwischenspiel mit vielen anderen Größen fortsetzen – mit Beschleunigungen, mit Kräften, mit Energien

Die Evolution hatte wenig Grund, uns auf unanschauliche Gegebenheiten der genannten Art vorzubereiten, und wir mussten eigens die Wissenschaft und ihre Methoden erfinden, um damit umgehen zu können.”

aus: Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. O.O.: RM Buch und Medien 2002 (2001), S.351-352.

01/22

21/01/2022 (19:26) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

China 3

“… as Xi Jinping turns China from a one-party state into a one-man imperium, everything matters. No detail is too small to sweat. No sympathetic politician too obscure to ignore. With opponents, Xi demands a gangster’s respect by unleashing retaliation out of all proportion to the original offence. China explodes at trivial examples of opposition a stable superpower would have the self-confidence to ignore.

… the Czech politician Zdeněk Hřib … discovered when he became mayor of Prague in 2018 that the city had committed itself to supporting Xi’s one-China policy, as part of an apparently harmless twinning agreement with Beijing. Hřib abandoned the policy because he was a liberal who did not agree with forcing Taiwanese people into a communist state against their wishes. In any event, he thought it ridiculous for a central European city to take a position on conflicts in the far east. China reacted as if he had declared war. It banned cultural contacts. Czech oligarchs with Chinese interests hired hack journalists and PR shills to attack him. Miloš Zeman, who was then the Czech republic’s Trumpian president, warned him and Prague of ‘unpleasant consequences’.

Today it is Lithuania’s turn. China is blocking imports and threatening multinationals with punishments if they do business with the tiny Baltic country, solely because it trades with Taiwan.

We should bother …”

aus: Nick Cohen: No friendly politician is too obscure for insecure China, not even Barry Gardiner. The Guardian online, 15.1.21, im Internet.

Abb.: Agapetoes Agus Kristianda: Big Mom, 2011, im Internet.

 

01/22

16/01/2022 (2:28) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Papiergeld

“Marschalk
Durchlauchtigster, ich dacht‘ in meinem Leben
Vom schönsten Glück Verkündung nicht zu geben
Als diese, die mich hoch beglückt,
In deiner Gegenwart entzückt:
Rechnung für Rechnung ist berichtigt,
Die Wucherklauen sind beschwichtigt,
Los bin ich solcher Höllenpein;
Im Himmel kann’s nicht heitrer sein.

Heermeister
Abschläglich ist der Sold entrichtet,
Das ganze Heer aufs neu’ verpflichtet,
Der Landsknecht fühlt sich frisches Blut,
Und Wirt und Dirnen haben’s gut.

Kanzler
Beglückt genug in meinen alten Tagen. –
So hört und schaut das schicksalschwere Blatt,
Das alles Weh in Wohl verwandelt hat.
‘Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt:
Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.
Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand,
Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.
Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz,
Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.’

Kaiser
Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug!
Wer fälschte hier des Kaisers Namenszug?
Ist solch Verbrechen ungestraft geblieben?

Schatzmeister
Erinnre dich! hast selbst es unterschrieben;
Erst heute nacht. Du standst als großer Pan,
Der Kanzler sprach mit uns zu dir heran:
‘Gewähre dir das hohe Festvergnügen,
Des Volkes Heil, mit wenig Federzügen.’
Du zogst sie rein, dann ward’s in dieser Nacht
Durch Tausendkünstler schnell vertausendfacht.
Damit die Wohltat allen gleich gedeihe,
So stempelten wir gleich die ganze Reihe,
Zehn, Dreißig, Funfzig, Hundert sind parat.
Ihr denkt euch nicht, wie wohl’s dem Volke tat.
Seht eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt,
Wie alles lebt und lustgenießend wimmelt!
Obschon dein Name längst die Welt beglückt,
Man hat ihn nie so freundlich angeblickt.
Das Alphabet ist nun erst überzählig,
In diesem Zeichen wird nun jeder selig.

Kaiser
Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold?
Dem Heer, dem Hofe gnügt’s zu vollem Sold?
So sehr mich’s wundert, muß ich’s gelten lassen.

Mephistopheles
Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat;
Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen,
Kann sich nach Lust in Lieb’ und Wein berauschen.
Will man Metall, ein Wechsler ist bereit,
Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit.
Pokal und Kette wird verauktioniert,
Und das Papier, sogleich amortisiert,
Beschämt den Zweifler, der uns frech verhöhnt.
Man will nichts anders, ist daran gewöhnt.
So bleibt von nun an allen Kaiserlanden
An Kleinod, Gold, Papier genug vorhanden.

…”

aus: Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, im Gutenberg-Projekt.

Abb.: Kusmanto: Super Power, 2013, indoartnow, im Internet.

01/22

08/01/2022 (23:12) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Denkpest

“Zehntausende Menschen gehen auf die Straße, vorgeblich gegen Coronamaßnahmen und Impfpflicht. Tatsächlich ist … eine gefährliche Protestbewegung entstanden, ihr kaum verstecktes Ziel ist ein Umsturz. …

Die meiner Einschätzung nach größte Gefahr geht … weniger vom harten Kern aus – sondern von den schätzungsweise mehreren Millionen Sympathisierenden mit … ihrer coronabasierten Akzeptanz von Extremismus und Gewalt. …

Die vielleicht wichtigste Frage ist: Wie konnten sich so viele Menschen radikalisieren …? …

Ich möchte eine These anbieten: Die Extremsituation der Pandemie, schlechte (staatliche, institutionelle) Kommunikation und soziale Medien wie Telegram haben ein neues Massenphänomen hervorgebracht, eine Vorstufe zum umfassenden Verschwörungsglauben: Die Denkpest. …

Denkpest ist, was passiert, wenn ein Mensch sich in den Gedankenirrgärten von Fake News und Verschwörungstheorien verläuft. …

Man muss an keine einzige Verschwörung glauben und kann trotzdem die Denkpest haben. Es reicht aus, wenn man ein derart tiefes Misstrauen entwickelt hat, dass man einfach nichts glaubt. …

Denkpest braucht als Grundlage die Überzeugung, dass mehr oder weniger alle Medien absichtlich oder aus Unwissen falsch berichten. …

Kernbestandteile scheinen einerseits Schwierigkeiten mit der Komplexität und den vielen Grauschattierungen der Welt zu sein – und andererseits die häufige Konfrontation mit widersprüchlichen Informationen. Für einige Menschen ergibt sich daraus ein unangenehmes Dilemma, weil sich für sie kaum gesichert sagen lässt, was sie glauben können und was nicht.

… schließlich bietet sich ein vermeintlicher Ausweg, der sogar noch simpler ist als die einfachen Erklärungen der Verschwörungstheorien: keine Erklärung, sondern einfach ein Abwehrgefühl. In Diskussionen … habe ich Begründungen gehört wie: ‘Ich kann nicht genau sagen, warum der Impfstoff schädlich ist, aber ich habe kein gutes Gefühl‘. Hier zeigt sich vielleicht besonders deutlich der Unterschied zwischen Verschwörungstheorien – die immer Muster oder Erklärungen anbieten – und ihrem Nährboden, der Denkpest. …

Das Generalmisstrauen … ist dann … das Einfallstor für viele weitere Radikalisierungsprozesse wie der Aufbau von Feindbildern, die Manifestation der Opferhaltung oder die prinzipielle Unterstellung der Bösartigkeit, wo eigentlich Fehler oder Unfähigkeit als Erklärung ausreichen. …

Direkt aus den alten, sowjetischen Manipulationshandbüchern des KGB stammt … die Strategie, so viele unterschiedliche, sich widersprechende Informationen zu veröffentlichen, dass das Publikum überfordert ist und nichts mehr glaubt. …”

aus: Sascha Lobo: Radikalisierung der Impfgegner: Die Denkpest geht um, Spiegel online, 5.1.22, im Internet.

01/22

06/01/2022 (2:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Moi 2

“Le moi de l’Occidental est une arme qui lui assure une mainmise sur les choses. L’Oriental traditionnel a la démarche inverse. Il abandonne les choses par un effort d’intériorisation du moi.”

aus: Nadj Ud-Din Bammate: La Tradition musulmane devant le monde moderne (1956), zitiert bei: Malek Chebel: L’Islam et la Raison. Le combat des idées. Paris: Perrin 2006 (2005), S.109.

Abb.: Elfandiary: Monolog, 2017, indoartnow, im Internet.

01/22

04/01/2022 (2:56) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Voile

“Alors que les débats entre Al-Ghazali et Averroes portaient sur des questions abstraites et universelles, ceux d’aujourd’hui ont pour objet la longueur, la largeur et la couleur du voile de la musulmane. Il y a dix siècles, Dieu présidait aux grands débats philosophiques entre musulmans, aujourd’hui beaucoup d’ignorants en ont fait un simple tailleur.”

aus: Malek Chebel: L’Islam et la Raison. Le combat des idées. Paris: Perrin 2006 (2005), S.67/68.

Abb.: Adhya Ranadireksa: Me and My Wives #01-#08, 2014, Indoartnow, im Internet.

01/22

04/01/2022 (2:50) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Menschenrechte

“Die Idee, dass jede Person auf der Welt … einige Grundrechte hat, die andere achten sollten, hat etwas höchst Reizvolles an sich. … 7

Die Berufung auf Menschenrechte kommt tendenziell meist von Menschen, denen es darum geht, die Welt zu verändern, statt sie zu interpretieren10

Menschenrechte können als in erster Linie moralische Ansprüche verstanden werden. … 14

Aus Menschenrechten ergeben sich Gründe zum Handeln für Akteure, die in der Lage sind, bei der Förderung oder dem Schutz der zugrunde liegenden Freiheiten Hilfe zu leisten. … Die Anerkennung der Menschenrechte verlangt nicht, dass sich jeder überall erhebt, um jedwede Verletzung jedwedes Menschenrechts, wo auch immer sie auftreten mag, zu verhindern. … [Es geht darum], dass jeder ernsthafte Überlegungen anstellen muss, der in der Lage ist, der Person, deren Menschenrecht bedroht ist, angemessen Hilfe zu leisten. … 14, 48/49

Mittel und Wege

[1] “Anerkennungsweg” …, Ansprüche … werden anerkannt, jedoch nicht notwendig im positiven Recht verankert … Die 1948 durch die Vereinten Nationen getragene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die vielleicht der wichtigste Schritt zur Förderung weltweiter Aktivitäten in Bezug auf die Menschenrechte im vergangenen Jahrhundert darstellt, fällt uneingeschränkt in diese Kategorie … 53

[2] Ein zweiter Schritt … setzt auf Aktivismus. … Rechte, die im Rahmen dieses Wegs … geltend gemacht werden … werden nicht … dadurch obsolet, dass sie keinen gesetzlichen Rückhalt haben. Und selbst wenn bestimmte Menschenrechte einen gesetzlichen Status besitzen, kann eine gute Durchsetzung der einschlägigen Gesetzgebung ebenfalls ein öffentliches Engagement bzw. öffentlichen Aktivismus erfordern. … 53/54

[3] Der dritte Ansatz ist natürlich die ‘Gesetzgebung‘. … Viele geltende Gesetze wurden durch Einzelstaaten oder Staatenverbünde erlassen. … 54/55

Ich wende mich nun der Kritik zu, die speziell gegen die Ausweitung der Idee der Menschenrechte auf wirtschaftliche und soziale Rechte wie etwa das Recht darauf, keinen Hunger zu leiden, das Recht auf grundlegende Bildung oder ärztliche Versorgung gerichtet worden ist. … Aus dem Verständnis heraus, dass einige Rechte … unter den gegenwärtigen Umständen … nicht vollständig umsetzbar sind, lässt sich keineswegs die Schlussfolgerung ziehen, dass sie aus diesem Grund überhaupt keine Rechte sind. Vielmehr deutet dieses Verständnis darauf hin, dass es notwendig ist, auf die Veränderung der derzeitigen Umstände hinzuarbeiten. … 57, 61

[Universalität]

Im Gegensatz zu kulturellen Stereotypen zeigen sich in der Geschichte verschiedener Länder auf der Welt im Lauf der Zeit ebenso wie zwischen den verschiedenen Traditionen innerhalb desselben Landes erhebliche Unterschiede. In vielen Ländern hat das Eintreten für eine freie, öffentliche Diskussion, die unterschiedliche Standpunkte toleriert und fördert, eine lange Tradition. … 67/68

In dritten Jahrhundert v.Chr. … [versuchte der Herrscher] Aśoka … [in Indien] Regeln für öffentliche Diskussionen in einem Kodex festzulegen. … Er forderte zum Beispiel ‘Zurückhaltung in der Rede, sodass es keine Lobpreisungen der eigenen Sekte oder Verunglimpfungen anderer Sekten bei unpassenden Gelegenheiten geben sollte, und die Rede sollte selbst bei angemessenen Anlässen gemäßigt sein’ … 68

Im … Japan des siebten Jahrhunderts fertigte der buddhistische Prinz Shōtoku als Regent der Kaiserin Suiko im Jahr 604 n.Chr. die sogenannte Verfassung in 17 Artikeln an …: ‘Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten sollten nicht von einer Person allein getroffen werden: Sie sollen mit vielen diskutiert werden.’ … 69

Einige hundert Jahre später, als in Agra der Mogulherrscher von Indien, Akbar, über die Pflicht der Regierung, das Recht auf Religionsfreiheit aller Bürger zu schützen, diskutierte und dies gesetzlich verankerte, herrschte in Europa noch die Inquisition … 69

Was für ‘fremdeKritiken gehalten wird, entspricht häufig internen Kritiken, die von Gruppen kommen, die nicht der Mehrheitsgruppe der Gesellschaft angehören. … 70

[Wir] müssen … unterscheiden zwischen (1) den Werten, die in einer Gesellschaft dominieren (unabhängig davon, wie repressiv die Gesellschaft ist), und (2) den Werten, von denen man erwarten könnte, dass sie eine breitere Anhängerschaft und Unterstützung gewinnen, sobald eine offene Diskussion erlaubt wird, sobald Informationen über andere Gesellschaften freier verfügbar werden und sobald Abweichungen von den etablierten Ansichten ohne jede Unterdrückung und angstfrei geäußert und verteidigt werden können. … 71

Ich möchte … betonen, dass das Verständnis und die Umsetzbarkeit der Menschenrechte … eng mit der Reichweite der vernünftigen Diskussion zwischen Personen und über Grenzen hinweg verknüpft sind. … 75

Die Tatsache, dass sich autoritäre Systeme normalerweise sehr vor … einer uneingeschränkten öffentlichen Diskussion fürchten … liefert … Belege dafür, dass der Einfluss des öffentlichen Diskurses tatsächlich sehr groß sein kann. …” 76

aus: Amartya Sen: Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Ditzingen: Reclam 2010 (engl. Originalausgabe 2004), Seitenzahlen oben angegeben …

Abb.: Wilchar: Les droits del’homme, o.J., in: Wilchar Superstar, Austellungskatalog Gent 2001, S.42

 

01/22

02/01/2022 (20:15) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gefühle

“Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie eine hochseriöse Journalistin in einem hochseriösen Programm eines hochseriösen Radiosenders zu einer hochseriösen Sendezeit einem hochseriösen Politiker … [fragt]: ‘Was macht das mit Ihnen?’ …

Politiker … werden für das Preisgeben innerer Zustände weder gewählt noch bezahlt. Sondern dafür, dass sie ihren Job machen. Werden sie als Menschen mit Gefühlsleben befragt, nimmt man sie aus ihrer Verantwortung. Nicht, was etwas mit ihnen macht, sondern was sie selbst machen, ist das, was wir von ihnen wissen wollen sollten. …

Auch an verwandten Trendfragen des Journalismus wie ‘Dürfen wir noch Discount-Ware kaufen?’ oder ‘Müssen wir jetzt alle Flugscham haben?’ lässt sich der gesellschaftliche oder teilgesellschaftliche Trend erkennen, der sich in der ‘Was macht das mit?’-Frage spiegelt: eine zunehmend seelsorgerisch ausgerichtete Betrachtung von Gesellschaft. Die Rede von ‘toxischen Beziehungen’, die Anzahl an neuen Sachbüchern, in denen es um Sinn, Selbstsorge und Seelenheil geht, geben davon Kunde.

Wenn nun seriöse Journalisten die ‘Was macht das mit?-‘Frage stellen, können sie keine seriösen Antworten erwarten.

Es könnte natürlich sein, dass die Frage eine Verzweiflungstat ist, weil Politiker mittlerweile so durchgecoacht sind, dass sie auf so gut wie alle Fragen mit ‘Ach wissen Sie …’ antworten und dann irgendwas erzählen, was keine Antwort auf die Frage ist. …

Es könnte aber auch sein, dass man die Inszenierung der Politik verinnerlicht hat und glaubt, die politischen Probleme (wer bezahlt für was wie viel?) kämen über uns wie die Apokalypse, das Pfingstwunder oder Feenstaub. Und Menschen, die dafür gewählt und bezahlt werden, Politisches zu erkennen, zu entscheiden, zu kontrollieren und zu lösen, würden von ihrem Berufsfeld auch bloß angeweht …”

aus: Doris Akrap: Gefühle statt Handlungen: Wir stellen die falschen Fragen, taz online, 2.1.22, im Internet

Abb.: Samuel Salcedo: Head Sculptures, im Internet.

01/22

02/01/2022 (18:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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