Putin 1
“Ja, man bekommt das Kernproblem von Putins Russland tatsächlich ausgezeichnet mit [Tschechows] ‘Onkel Wanja’ zu fassen: Der Wladimirowitsch des Stückes lässt ‘seit fünfundzwanzig Jahren … die letzten Tropfen aus (seinem) Gut’ herauspressen und ist peinlich darauf bedacht, die ‘mehr oder minder ständige Einkunftsquelle’ nicht versiegen zu lassen. Aber er bewirtschaftet sein Land nicht produktiv, seit die alte, stehende Zeit (der Feudalwirtschaft) untergegangen ist: ‘Hätte man an Stelle (der) abgeholzten Wälder eine Chaussee angelegt oder eine Eisenbahnlinie’, klagt Astrow, ‘hätte man hier Fabriken und Schulen gebaut, wäre das Volk gesünder, wohlhabender und klüger. Aber nichts dergleichen’ geschah.
Stattdessen presst der echte Wladimirowitsch im Kreml seit zwanzig Jahren die letzten Tropfen Gas und Öl aus der russischen Erde, um sich mit den Erträgen von seiner postsowjetischen Belastungsstörung zu kurieren und seinen russifizierten Zarenreichsfantasien nachjagen zu können. … Sieben der zehn größten Unternehmen Russlands verdienen ihr Geld mit der Erschließung und Ausbeutung von Öl und Gas. … Kein einziges der Top-25-Unternehmen in Russland entwickelt avancierte Technologie oder Produkte, die am Weltmarkt nachgefragt wären. … Der Anteil von Maschinen an den Ausfuhren beträgt gerade mal 2,5 Prozent. Rechnet man allein Öl und Gas aus der Handelsbilanz heraus, fällt Russland als Exportnation schnell auf das Niveau von Zehn-Millionen-Einwohner-Staaten wie Tschechien, Österreich und Schweden zurück. Rechnet man auch die Bodenschätze heraus, befindet sich Russland auf Augenhöhe mit der Slowakei und Griechenland. Kurz: … Wer mit der Zukunft seines Landes nichts anzufangen weiß, sucht sein Heil in der Glorifizierung der Vergangenheit.
Für den Moment besonders problematisch ist dabei Russlands politische Rolle rückwärts. Putin hat den USA und der Nato zwei Vertragsentwürfe präsentiert, die auf eine Reißbrett-Revision der europäischen Geschichte seit 1989/90 hinauslaufen. Die Nato darf keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen, weder Finnland noch Schweden und Österreich, die nicht mal eine Grenze mit Russland teilen? Putins Gesprächsangebot … ist in Wirklichkeit ein Ultimatum: Willigen die USA nicht ein, Europa (wieder) in Einflusssphären zweier Großmächte aufzuteilen, müsse Russland das als Akt der Aggression verstehen …
Klarer als Putins Russland kann man seine Verachtung für die ‘Charta von Paris’ nicht ausdrücken. Die Unterzeichner des Vertrags, auch Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, haben sich 1990 verpflichtet, aller Androhung und Anwendung von Gewalt gegen ‘die territoriale Integrität’ und ‘politische Unabhängigkeit eines Staates‘ zu entsagen – und das ‘Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen’ anerkannt. Jetzt spricht Putin nicht nur der Ukraine und postsowjetischen Staaten wie Armenien und Georgien, sondern ex post auch EU-Ländern und Nato-Mitgliedern ihr Selbstbestimmungsrecht ab: Kein europäischer Staat soll mehr Truppen oder Ausrüstung in andere europäische Staaten verlegen können, die nicht zum Stichtag der Nato-Russland-Akte (1997) Mitglied des Verteidigungsbündnisses waren? Damit wären etwa die baltischen Staaten, aber auch Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien (Beitritt im März 2004) militärisch auf sich allein gestellt. …
Putin … sieht in den Neunzigerjahren keine Zugewinne für die Freiheits-, Bürger– und Menschenrechte in Europa, sondern eine Schmach für Russland – und verachtet alle, die am Zerfall der Sowjetunion beteiligt waren …
… Man braucht Lösungen fürs 21. Jahrhundert und verhandelt mit einem Potentaten, der sein Land ökonomisch fesselt, politisch zurück ins 20. Jahrhundert strebt und kulturell noch hinter Peter den Großen und seine frühaufklärerische, pro-europäische Reformen zurückfällt: heim ins ‘Moskauer Reich‘ sozusagen, in einen russifizierten Staat der Zaren und Bojaren, gestützt von einer im Mittelalter wurzelnden Tradition der russisch-orthodoxen (National-)kirche.
Während die mindestens genauso geschichtsstolzen Kader in China ihr Land der Zukunft förmlich entgegen treiben, die Wirtschaft des Landes innovieren und gehorsame Untertanen seit vier Jahrzehnten mit Wohlstandszuwächsen belohnen, fesselt Putin Russland mit einem ikonisierten Geschichtsbild und einer ‘fossilen Rentenökonomie’ (Ralf Fücks) an den alten Mythos von der leidensfähigen, russischen Seele: ‘Tiefe des Volksherzens’ (Dostojewski) statt zivilisatorischer Fortschritt, ökonomische Oblomowerei statt gründerselige Zukunftslust, politische Destruktion statt Kooperation: Es ist kein Zufall, dass sich Russlands technologische Modernität der übrigen Welt nurmehr durch Hyperschallraketen und Hackerangriffe mitteilt.”
aus: Dieter Schnaas: Einen Lindenblütentee für Gutsherr Wladimir! WirtschaftsWoche Online, 23.1.22, im Internet.
Abb: aus der Ausstellung Super Putin, Moskau 2017, im Internet.
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