“Also gibt es zwei Arten von Wahnsinn. Die eine kommt aus der Tiefe der Unterwelt, gesandt von den unheilverkündenden Furien, die ihre Schlangen freilassen; ins Herz der Menschen dringen dann Kriegsbegeisterung, unersättliche Geldgier, unwürdiges und sündhaftes Liebesverlangen, Elternmord, Blutschande, Gotteslästerung oder ähnlich abscheuliche Verbrechen, und das schuldbeladene Gewissen wird gemartert durch grauenvolle Angstvorstellungen und entsetzliche Schreckgespenster. Aber es gibt noch eine andere Art Wahnsinn, die von jener ersten ganz verschieden ist … und die alle Menschen sich nur wünschen können. Sie bewirkt eine überaus angenehme Täuschung der Vernunft, so daß der Geist des Menschen von allen beängstigenden Sorgen befreit und zugleich mit vielerlei Vergnügen erfrischt wird. …
Nur wenn jemand nur nicht nur von seinen Sinnen, sondern auch von seiner Verstandeskraft im Stich gelassen wird, und zwar fortgesetzt und ohne Unterbrechung … dann erst ist das Urteil gerechtfertigt, er sei vom Wahnsinn bedroht. Wenn dieser Wahn – wie es meistens geschieht – sich aber in Vergnügen verwandelt, so bereitet er nicht geringe Freude denen, die von ihm ergriffen sind, wie auch jenen, die nur zuschauen, selbst aber noch nicht wahnsinnig sind. …
Prüft bitte, ob ihr unter all den Votivtafeln, die nicht nur sämtliche Wände, sondern auch das Gewölbe mancher Kirchen bedecken, je eine gesehen habt, die jemand geweiht hätte, weil er der Torheit entrann oder auch nur ein Gran gescheiter geworden wäre? … – Kein einziger … dankt für Erlösung von der Torheit. Sie ist so reizvoll für die Sterblichen, daß sie von allem anderen befreit werden wollen, nur nicht von der Torheit.”
aus: Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Übersetzt und herausgegeben von Uwe Schultz. Frankfurt(Main): Insel 1979 (Lateinisches Original 1511), S.64/65, 71/72
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