“Das Private ist politisch. Das ist heute kein Slogan mehr, sondern eine Tautologie. Es müsste vielmehr heißen: Das Politische ist privatisiert. Zwar wird immer noch demonstriert oder im Gespräch mit der Nachbarin über „die da oben“ geschimpft. Aber die Menschen sind gefangen in der Vorstellung, auf sich allein gestellt zu sein. … allen ist gemeinsam, dass sie sich zwar über Bezahlung, prekäre Bedingungen oder Stress im Job beschweren, das alles aber gleichzeitig irgendwie hinzunehmen scheinen. Die Verzweiflung wird oft zynisch weggelächelt oder man gibt sich selbst die Schuld. Selten wird die persönliche Misere als Indikator für den Zustand der Gesellschaft verstanden.
Dabei hatte doch der anfangs zitierte 68er-Aphorismus dazu beitragen wollen, die Probleme des Individuums mit der Gesellschaft zu verschalten. Die größte Errungenschaft dieser Bewegung war es, die Gesellschaft als Kategorie ins Bewusstsein zu holen und den verrückten, abweichenden, sexuell befreiten Menschen nicht als Solitär, sondern als ein mit anderen verbundenes Wesen zu verstehen.
Dieser Gedanke aber scheint immer weniger anschlussfähig. … Wir leben in einer Welt, für die der Satz Margaret Thatchers immer noch gilt: ‘Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen.’
Die deutsche Gesellschaft hat sich spätestens seit der Agenda 2010 mit ihren Kernzielen Senkung der Lohnnebenkosten, Flexibilisierung der Arbeit, massive Kürzung staatlicher Leistungen in ein Regime der individuellen Autonomie, persönlichen Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung entwickelt. Wir sind immer mehr auf uns selbst zurückgeworfen. …
War die Hinwendung zum Eigenen mal ein Versprechen auf Selbstbefreiung, ist es heute geradezu ein Muss, sich selbst zu sein. Die Sozialen Medien machen uns zu hypernervösen Kuratoren der eigenen Identität …
Jener Individualismus ist mehr als ein Kollateralschaden aus den Konflikten der wilden Siebziger, er ist auch die perfekte Voraussetzung für eine Umwelt, die davon profitiert, dass Menschen sich als Einzelkämpfer verstehen. Das spiegelt sich wiederum in einer Wettbewerbskultur, die einen neurotischen Individualismus produziert …, ein ständiges Konkurrenzgefühl.
Das Politische wird damit weniger zur Frage des Ichs, das sich zum Wir öffnet, sondern eine des Ichs, das sich um sich selbst dreht. So könnte in der Privatisierung des Politischen auch eine der Ursachen dafür liegen, dass sich große Teile der Bevölkerung nicht mehr ‘angesprochen’ fühlen oder sie aus Frust antiliberale rechtspopulistische Parteien wählen. …
Gewiefte Demagogen haben dieses Wir-Vakuum erkannt und arbeiten emsig daran, die individuell erfahrene Ohnmacht in kollektive, fremdenfeindliche Machtfantasien zu bündeln. Dass dies in einer Zeit passiert, in der Öffentlichkeit als Raum, der verhindert, dass Menschen „gleichsam über- und ineinanderfallen“, wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb, einer zunehmenden Erosion öffentlicher Institutionen zum Opfer fällt, scheint nicht zu verwundern. Denn die Öffentlichkeit kommt heute eher zu uns als wir zu ihr. Wir sitzen zwar alleine am Schreibtisch, sind aber zugleich „connectet“.
Jenes vernetzte Einsiedlertum zeigt sich auch in einem auseinanderdriftenden Alltagswissen. Stehen in Zeitungen als Organ politischer Willensbildung noch relativ ähnliche Inhalte über den Ist-Zustand der Welt, sehen die Timelines … alle unterschiedlich aus. Auf kuriose Weise hat sich das bei den Demos der Gelbwesten in Paris gezeigt. Dort haben sich Millionen Menschen aus ihrer Vereinzelung bewegt, doch eint sie oft nicht mehr als das Symbol, das sie tragen. … Aufrufe auf Facebook haben sie mobilisiert, doch ihre Begründungen sind sehr unterschiedlich, weil die Filterblasen allen die passenden Erklärungen liefern.
Und jetzt? Um das Politische wieder zu sozialisieren, wäre viel gewonnen, wenn die neoliberale Fiktion überwunden werden würde, nach der wir auf uns alleine gestellt sind. Menschen sind keine atomisierten, sondern molekulare, also miteinander verbundene Wesen. …
Großes Potenzial birgt neben der Klassen- auch die Mietfrage, die in Großstädten zur existenziellen Bedrohung wird. … Hier könnte das alte, eigentlich nichtliberale Phänomen der Solidarität helfen. … Ohne Ich gibt es keine Gemeinschaft, aber ohne Wir keine Gesellschaft.”
aus: Philipp Rhensius: Das Politische ist privatisiert. taz online, 6.1.19, im Internet.
Abb.: Rene Magritte: Golconda, 1953, Menil Collection, Houston, TX, US, hier wikiart, im Internet.
01/19