“In Anbetracht ihrer multiplen sozialen Rollen haben Igbo-Frauen nicht nur eine einzige geschlechtliche Identität. …
Die erste wesentliche Grundlage von Identität [ist] die Verwandtschaftslinie (lineage), in der die Machtverhältnisse diffus sind. Die grundlegende soziale Differenzierung entfaltet sich entlang folgender Kategorien: umuada (die Töchter innerhalb einer Verwandtschaftslinie), okpala (die Söhne innerhalb einer Verwandtschaftslinie) und inyemedi (die in die Verwandtschaftslinie einheiratenden Ehefrauen). Das Ordungsprinzip innerhalb jeder dieser … Kategorien ist die Seniorität. …
Innerhalb dieses Systems nehmen die umuada (Frauen, Töchter) und die okpala (Männer, Söhne) dieselbe dominante Rolle eines ‘Ehemannes’ gegenüber denjenigen Frauen ein, die nicht aus derselben Verwandtschaftslinie kommen. …
Anders als in westlichen Eheverhältnissen, in der verheiratete Töchter alle Mitspracherechte in ihrer Geburtsfamilie verlieren, haben umuada in ihren Geburtsfamilien weiterhin eine gewichtige Stimme. Sie übernehmen soziale Funktionen innerhalb der Rechtsprechung und der Friedensstiftung und führen regelmäßig Reinigungsrituale sowie Begräbnisrituale für verstorbene Mitglieder ihrer Familie aus. …
Da sie auch nach ihrem Umzug in die Familie ihres Mannes weiterhin einen dominanten Einfluss in ihrer eigenen Verwandtschaftslinie behalten, entwickeln umunwanyi (Frauen) mindestens zwei verschiedene soziale Identitäten, zwischen denen sie permanent hin- und herwechseln. …
Mutterschaft und Seniorität … [lassen] die Position der nwwye (Ehefrau) erheblich an Bedeutung gewinnen … Des weiteren entzieht sich in einem historischen Kontext, in dem Frauen andere Frauen als Ehefrauen heiraten konnten und dies auch taten, die Frage nach dem ‘Ehemann-Sein’ oder dem ‘Ehefrau-Sein’ simplen physiologischen Interpretationen der westlichen Kultur. (Di, der Begriff, welcher als ‘Ehemann’ übersetzt wird, bezieht sich lediglich auf die Mitglieder einer Familie, in die die Frau einheiratet.)
Frauen können Ehefrauen und Ehemänner gleichzeitig sein. Einige können in der Tat selbst eine Ehefrau oder Ehefrauen heiraten (ohne dass sexuelle Beziehungen involviert sind), selbst wenn sie bereits mit einem Mann verheiratet sind. …
Die Gesellschaft des westlichen Igbolandes ist leistungsorientiert … Konsequenterweise kann eine soziale Klassifizierung, die Frauen Männern unterordnet – oder auch umgekehrt – nicht funktionieren. … Auch von Frauen wird erwartet, dass sie erfolgreich sind. …
[Erst] die großen sozialen Umwälzungen während der Kolonialherrschaft … [schufen] einige jener Traditionen …, die Männer privilegieren und die heutzutage als ‘traditionell’ oder ‘indigen’ gelten. …
[Es wird noch komplizierter…]
Es gab früher (und in manchen Gemeinschaften gibt es wohl auch heute noch) eine weit verbreitete und bedeutsame soziale Praxis, die als idigbe, idegbe oder mgha bekannt ist. Diese Institution ermöglicht es einer Tochter – ihre Ehe aufrechterhaltend oder diese auflösend -, in ihr Geburtshaus zurückzukehren, wo sie mit einem Liebhaber Kinder haben kann, die in ihre eigene Verwandschaftslinie integriert werden.
Es gibt zwei unterschiedliche Lesarten, wie idigbe oder mgha verstanden werden können. Die erste … beschreibt eine Situation, in der eine Frau ein Verhältnis mit einem Liebhaber eingeht, welches auf beiderseitigem Einverständnis beruht, sie behält ihre ursprüngliche Identität als Tochter und wird niemals dessen Ehefrau. Da kein Brautschatz gezahlt wurde, behält … [sie] das alleinige Sorgerecht für die Kinder …
Die zweite … [bezeichnet] eine Tochter, die formell die Kultstätte ihrer Ahnen betreut. Dies geschieht in dem seltenen Fall, in dem es keinen männlichen Nachfolger gibt …”
aus: Nkiru Nzegwu: Feminismus und Farika: Auswirkung und Grenzen einer Metaphysik der Geschlechterverhältnisse. In: Franziska Dübgen / Stefan Skupien: Afrikanische politische Philosophie. Berlin: Suhrkamp 2015, S.206-215.
Zara Maryam Khan: Just tell him who I am, ca. 2023, im Internet.
07/17