“Die menschliche Ohnmacht im Mäßigen und Einschränken der Affekte nenne ich Unfreiheit. Denn der den Affekten unterworfene Mensch steht nicht unter seinen eigenen Gesetzen, sondern unter denen des Schicksals, dessen Macht er dermaßen unterworfen ist, daß er oft gezwungen ist, dem Schlimmeren zu folgen, obgleich er das Bessere sieht. …
Unter gut werde ich … im folgenden das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist, uns dem Muster der menschlichen Natur, das wir uns aufstellen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlecht dagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es uns hindert, diesem Muster ähnlich zu sein. Ferner werde ich die Menschen vollkommener oder unvollkommener nennen, sofern sie sich diesem Exemplar mehr oder weniger nähern. …
Die Menschen [lassen sich] mehr von ihrer Meinung als von der wahren Vernunft … bewegen … weshalb die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten in der Seele Aufregungen verursacht und häufig Lüsten aller Art den Platz räumt …
[Was ist es denn,] das uns die Vernunft vorschreibt …?
… Da die Vernunft nichts verlangt, was der Natur widerstrebt, so verlangt sie folglich selbst, daß jeder sich selbst liebe, seinen Nutzen, d.h., was ihm wahrhaft nützlich ist, suche und alles, was den Menschen wahrhaft zu größerer Vollkommenheit führt, begehre; überhaupt, daß jedermann sein Sein, so gut er kann, zu erhalten strebe. …
Wir [können] es niemals dahin bringen …, für die Erhaltung unseres Seins keiner Außendinge zu bedürfen und ohne allen Verkehr mit der Außenwelt zu leben. Ziehen wir überdies unsern Geist in Betracht, so wäre sicherlich unser Verstand weniger vollkommen, wenn der Geist von außen abgesondert wäre und außer sich selbst nichts erkennen würde. – Es gibt also vieles außer uns, was uns nützlich und daher erstrebenswert ist. Unter diesen Dingen wiederum ist das denkbar Vorzüglichste das, was ganz und gar mit unserer Natur übereinstimmt. …
Es ist daher dem Menschen nichts nützlicher als der Mensch. Nichts Vorzüglicheres, sage ich, können sich die Menschen zur Erhaltung ihres Seins wünschen, als daß alle … für sich suchen, was allen gemeinschaftlich nützlich ist.
Hieraus folgt, daß Menschen, die sich von der Vernunft regieren lassen, d.h. Menschen, die nach der Leitung der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts für sich verlangen, was sie nicht auch für andere Menschen begehren, und also, daß sie gerecht, treu und ehrenhaft sind.
Lebten nun die Menschen nach der Leitung der Vernunft, so würde jeder … sein Recht behaupten ohne irgendeinen Schaden eines andern. Weil sie aber den Affekten unterworfen sind …, welche das menschliche Vermögen oder die menschliche Tugend weit überragen …, so werden sie oft nach verschiedenen Richtungen getrieben … und stehen sich einander feindselig gegenüber …, während sie doch zu wechselseitiger Hilfe einander bedürfen. …
Damit also die Menschen in Eintracht leben und hilfreich gegeneinander sein können, ist es notwendig, daß sie ihr natürliches Recht aufgeben und einander Sicherheit gewähren, daß keiner etwas tun werde, was einem andern zum Schaden gereichen kann. …
Ein Affekt [kann] nicht anders eingeschränkt werden … als durch einen anderen stärkeren und dem ersten entgegengesetzten Affekt … Durch dieses Gesetz nun kann ein Verein gegründet werden, indem der Verein sich das Recht aneignet, … über Gut und Schlechtsein Urteil zu fällen. Er muß daher die Macht haben, über die Lebensweise allgemeine Vorschriften zu erteilen und Gesetze zu geben und dieselben zur Geltung zu bringen; nicht durch die Vernunft, welche die Affekte nicht einschränken kann …, sondern durch Drohungen. Ein solcher, auf Gesetze und die Macht, sich zu erhalten, sich gründender Verein heißt Staat, und diejenigen, welche durch dessen Recht geschützt werden, heißen Bürger.”
aus: Baruch Spinoza: Die Ethik. Lateinische Orig.-Ausg. 1677, hier Übersetzung durch J. Stern, Leipzig: Reclam 1887, S. 248, 252, 269, 271-273, 292-293. [Volltext im Internet]
Abb.: Erwin Wurm: Ethik in geometrischer Weise dargestellt, 2003, im Internet.
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