MALTE WOYDT

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Konsum 1

“Der Kölner Dom: ergreifend. … Das Innere: völlig leer … Es kommt fast niemand hierher. Manchmal betritt eine Gruppe den Dom, um einen Blick auf den Altar zu werfen, auf die Figuren, auf die Glasfenster. …

Auf dem Platz vor dem Dom: Vier Personen stehen bewegungslos mit dem Rücken zueinander und halten einander an den Händen. Sie sehen aus wie ein Denkmal, wie ein Denkmal-Happening, wie ein Block, der plötzlich erstarrte. Auf der Brust tragen sie Tafeln mit Aufschriften. Sie protestieren gegen etwas, kämpfen für eine Sache. …

Hundert Meter weiter beginnt der Wahnsinn, eine farbenfrohe Zeremonie, das große Mysterium! Die Hohestraße, die größte Einkaufsstraße der Stadt. … Wir tauchen ein in die Menge. Denn durch die Hohestraße strömen Massen, unzählbar, unüberschaubar, ameisengleich. Wälzt sich eine Prozession – ein Strom. … Diese Prozession dringt nie vor bis zum Dom, obwohl der Dom gleich nebenan steht. Doch diese Prozession findet zu Ehren anderer Götter statt, deren weitläufiger und reicher Pantheon von Neonlichtern, Scheinwerfern, Spiegeln, Messing und Nickel blitzt und glänzt. Seine Tempel erstrecken sich über eine ganze Straßenfront. … [Hier] … finden wir … Drängen, Fieber, eine innere Erregung der Menschen, die sich voll und ganz dem Einkaufskult hingeben, an nichts anderes denken können …

Erst hier kann man sagen, was die Menschen zur wirkungsvollen Arbeit antreibt, zur Anstrengung, zur Teilnahme an dem Wettlauf, mehr, besser, effektiver zu arbeiten: der Anblick der Waren. …

Die Menschen verabreden sich: Gehen wir zusammen einkaufen – das hat etwas vom Klima eines östlichen Marktes an sich, eines persischen oder arabischen Suks, also von Orten, die gleichzeitig Tempel des Warenangebotes und Tempel der Kultur sind. Das Erlangen der Ware wird hier nicht zum Ziel an sich und findet nicht in einer Atmosphäre des Kampfes, des Konflikts und der Aggression statt, sondern, im Gegenteil – es geht hier um Kontakte, um das Einandernäherkommen, um die Gemeinsamkeit. …

Der Kult der samstäglichen Einkäufe dauert ein paar Stunden. Nachmittags leert sich die Hohestraße. Die Prozession verschwindet. Die Verkäuferinnen schließen die Warenhäuser, die Besitzer machen ihre Läden dicht. … Köln hört auf zu existieren. … Es ist der Markt, der die Stadt ausmacht.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Köln 1984. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.96-100.

Abb.: Klaus Staeck: Am Anfang war das Geld, 1973, Edition Staeck, im Internet.

08/15

23/08/2015 (14:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

hintersichlassen

“Meine alten Bekannten verlassen mich auf zwei Arten: die einen verschwinden auf dem Friedhof, für immer, die anderen bleiben am Leben, doch ich verliere den geistigen Kontakt zu ihnen. Manche erwecken den Eindruck, sie seien nicht älter geworden, hätten keine Erfahrungen gesammelt. Sie sprechen noch dieselbe Sprache wie vor 20-30 Jahren und denken in denselben starren Bahnen. Ich weiß nicht, was ich ihnen antworten soll. Das Bewußtsein dieser Menschen erinnert mich an das Objektiv eines Fotoapparates, in dem nur einmal die Blende geöffnet wurde. Der Film notiert ein gewisses Bild der Welt, dann schließt sich die Blende, und so bleibt es.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1984. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.93.

Abb.: Mounir Fatmi: Already Dead 1, 2021, im Internet.

08/15

23/08/2015 (13:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Denken 2

“Wer … meint, er denke unabhängig, weil er die von den Massenmedien dargestellten Inhalte kritisch betrachtet, der irrt. Selbstständiges Denken ist die Kunst, selber über Themen nachzudenken, die man aus eigenem Antrieb, aufgrund eigener Beobachtung und Erfahrung, ausgewählt hat, unter Mißachtung der Themen, die uns die Massenmedien aufzuzwingen versuchen.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1982. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.55.

Abb.: Foto Universiteit Gent, 11.24.

08/15

23/08/2015 (12:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Freiheit 2

“Ein Teil der Menschen ist der Ansicht, daß sie die Sphäre ihrer privaten Freiheit erweitern, wenn sie die Sphäre ihrer öffentlichen Aktivitäten einengen (oder einfach: ihre Anwesenheit). Sie geben sich also Mühe, zu schrumpfen, zu verarmen, sich in Staub zu verwandeln. Diese Menschen rechnen damit, daß sich die Staatsmacht dann nicht mehr für sie interessiert, weil für diese nur existiert, wer sichtbar ist oder wem man etwas wegnehmen kann.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1982. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.48.

Abb.: Mohammed al Hawajri: Guarnica-Gaza (2010-2013), zitiert: Marc Chagall: Above City (1924), documenta15.

 

08/15

23/08/2015 (12:10) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Terror 1

“Der Terror schafft nichts, er ist unfruchtbar. Es ist unfruchtbar, sich mit dem Terror als Thema zu befassen. Der Mechanismus des Terrors gleicht dem Mechanismus des wuchernden, bösartigen Krebsgeschwüres. Eine schreckliche und monotone Welt, erschreckend und leer, graue Erde, ausgehöhlte Menschen, Gewimmer, Schreien, weite Räume des Schweigens, ständiger Gefängnismarsch – Gehen im Kreise, in einem Kreis der Betäubung und der Schmerzen.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1982. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.45/46.

08/15

23/08/2015 (12:05) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Schismen

“Manche ideologischen Konflikte lassen sich darauf zurückführen, daß die Ideologie eine andere kulturelle Färbung annimmt, oft sogar ihren ursprünglichen Sinn verändert, wenn sie ihre geographische Lage ändert. Jeder Kulturkreis verleiht derselben Ideologie eine andere Tönung, fügt etwas hinzu und nimmt etwas anderes weg, die Wanderung der Ideen ist ein aktiver Vorgang und am Ende dieser Wanderung kann uns die Idee in ganz anderer Form begegnen. Jede räumliche Bewegung … birgt die Gefahr eines Schismas in sich. Die potentielle und sogar unausweichliche Gefahr. … Das Zentrum bekämpft die Schismen mit dem Argument, das Schisma schwäche die Ideologie, sei deren Feind. Doch die Geschichte des Christentums und des Islams beweisen das Gegenteil. Das Schisma festigt die Ideologie durch ihre Regionalisierung und Nationalisierung, obwohl es gleichzeitig … das Zentrum schwächt.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Mexiko 1972. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.10.

Abb.: Iglesia de Santa María Tonantzintla, Puebla, Mexico, im Internet.

08/15

23/08/2015 (11:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Reinheit

“Partisanen. Ihre Bewegung ist vor allem eine Bewegung der moralischen Reinigung. Das politische Ziel ist gewissermaßen sekundär und oft gar nicht wirklich bewußt. Viele junge Menschen treten der Partisanenbewegung bei, weil sie nicht die Schuld auf sich laden wollen, von dem System zu profitieren. Sie kämpfen nicht aus der Position von Anwärtern auf die Macht, sondern aus der Position von Aposteln der Gleichheit, verstanden als moralische Kategorie. Sie überlegen sich nicht, ob sie siegen werden, sie wollen nur rein sein.

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Mexiko 1972. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.29.

08/15

23/08/2015 (11:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Populismus 2

“Eigenschaften des Populismus:

  • ambiguo – zweideutig, sogar mehrdeutig, nicht konkret, undurchsichtig;
  • transaccional – Politik des Feilschens, Aussöhnens von Gegensätzen, Zaudern, Paktieren;
  • sin salida – eine Politik, die zu keinem endgültigen Ergebnis führt, die Strukturen unangetastet läßt;
  • demagogico – Sprache des Volkes, doch Handeln ohne das Volk, Angriff gegen die Oligarchie, doch nur mit Worten, nebelhaft und undeutlich.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Mexiko 1972. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.23/24.

08/15

23/08/2015 (11:35) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Worte 2

“Das Wort: Der Unterschied zwischen der Bedeutung des Wortes bei ihnen [in Lateinamerika] und bei uns [in Europa]. ‘Und das Wort wurde Fleisch.’ Hier erreicht das Wort nie dieses Stadium, diesen Zustand der Kristallisation. Hier ist das Wort wie ein Korken im Wasser, wie eine Feder in der Luft. Es schwimmt, schwebt, ungreifbar, ist veränderlich wie ein Kaleidoskop, ungreifbar, es taucht auf und verschwindet spurlos, und oft – ohne Eindruck zu hinterlassen. Es hat kein Gewicht, besitzt nicht diese absolute, grobe Aufdringlichkeit, stellt keine Gefahr dar. …”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Mexiko 1972. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.18/19.

Abb.: Diana Weymar, stitching created of a quote originally spoken by Donald Trump, 2018/19, part of The Pricks Project, im Internet.

08/15

23/08/2015 (11:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Social Media 2

[DE]

“Six years was a long time to be in jail, but it’s an entire era online. Writing on the internet itself had not changed, but reading — or, at least, getting things read — had altered dramatically. …

Blogs were gold and bloggers were rock stars back in 2008 when I was arrested. … People used to carefully read my posts and leave lots of relevant comments, and even many of those who strongly disagreed with me still came to read. Other blogs linked to mine to discuss what I was saying. I felt like a king. …

The hyperlink was a way to abandon centralization — all the links, lines and hierarchies — and replace them with something more distributed, a system of nodes and networks. Blogs gave form to that spirit of decentralization: They were windows into lives you’d rarely know much about; bridges that connected different lives to each other and thereby changed them. …

Since I got out of jail, though, I’ve realized how much the hyperlink has been devalued, almost made obsolete.

Nearly every social network now treats a link as just the same as it treats any other object — the same as a photo, or a piece of text — instead of seeing it as a way to make that text richer. You’re encouraged to post one single hyperlink and expose it to a quasi-democratic process of liking and plussing and hearting: Adding several links to a piece of text is usually not allowed. Hyperlinks are objectivized, isolated, stripped of their powers.

At the same time, these social networks tend to treat native text and pictures — things that are directly posted to them — with a lot more respect than those that reside on outside web pages. One photographer friend explained to me how the images he uploads directly to Facebook receive a large number of likes, which in turn means they appear more on other people’s news feeds. On the other hand, when he posts a link to the same picture somewhere outside Facebook — his now-dusty blog, for instance — the images are much less visible to Facebook itself, and therefore get far fewer likes. …

Apps like Instagram are blind — or almost blind. Their gaze goes nowhere except inwards, reluctant to transfer any of their vast powers to others, leading them into quiet deaths. The consequence is that web pages outside social media are dying. …

Fewer users are directly checking dedicated webpages, instead getting fed by a never-ending flow of information that’s picked for them by complex –and secretive — algorithms. The Stream means you don’t need to open so many websites any more. You don’t need numerous tabs. You don’t even need a web browser. You open Twitter or Facebook on your smartphone and dive deep in. The mountain has come to you. Algorithms have picked everything for you. …

Here’s no question to me that the diversity of themes and opinions is less online today than it was in the past. New, different, and challenging ideas get suppressed by today’s social networks because their ranking strategies prioritize the popular and habitual. … But diversity is being reduced in other ways, and for other purposes.

Some of it is visual. Yes, it is true that all my posts on Twitter and Facebook look something similar to a personal blog … But I have very little control over how it looks like; I can’t personalize it much. …

The centralization of information also worries me because it makes it easier for things to disappear. … What if my account on Facebook or Twitter is shut down for any reason? …

Maybe it’s that text itself is disappearing. After all, the first visitors to the web spent their time online reading web magazines. Then came blogs, then Facebook, then Twitter. Now it’s Facebook videos and Instagram and SnapChat that most people spend their time on. There’s less and less text to read on social networks, and more and more video to watch, more and more images to look at. Are we witnessing a decline of reading on the web in favor of watching and listening?

The web was not envisioned as a form of television when it was invented. But, like it or not, it is rapidly resembling TV: linear, passive, programmed and inward-looking. …
In the past, the web was powerful and serious enough to land me in jail. Today it feels like little more than entertainment. …”

aus: Hossein Derakhshan: The Web We Have to Save. Medium.com, 14.07.2015

Abb.: Pawel Kuczynski: Blinkers, pictorem, im Internet.

07/15

23/07/2015 (1:17) Schlagworte: EN,Lesebuch ::
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