“Merkwürdig, daß der Witwenstand, ganz abgesehen von dem persönlichen Verlust und dem persönlichen Alleinbleiben als eine Art von Demütigung fast überall empfunden wird. Familienstand: ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet, nicht Zutreffendes zu durchstreichen, ich kenne keine Frau, die das Wwe. als Ehrentitel empfände. Es scheint schon dem Überleben etwas Anrüchiges anzuhaften, etwas von üblem Lebenswillen und Lebenstrotz, zugleich auch etwas Verächtliches – sie hat ihren Mann verloren, wir haben unsere Männer noch, fahren zusammen ins Grüne, gehen zusammen durch die Straßen, das kommt doch nicht von ungefähr. Tatsächlich haftet jeder Witwe etwas von einer Gattenmörderin an. Weswegen sie denn auch, immer vorausgesetzt, daß sie keine eigene Arbeit, keinen eigenen Freundeskreis hat, gestraft wird mit Vernachlässigung, gnadenhaften Einladungen, aber es gibt, dank der höheren Lebenserwartung der Frauen, so viele Witwen, so viele Bruchstücke, mit denen man sich sein Wohnzimmer nicht voll setzen mag. Sie sind zudem selten ganz normal, vielmehr sonderbar, sprechen ununterbrochen von ihrem Verewigten, oder überhaupt nicht, sehen sich aber auch dann mit Gieraugen um, sagt doch etwas, sprecht über ihn, er kann doch für euch nicht ganz tot sein, wie oft hat er hier gesessen oder gestanden, die Hände in den Taschen, an eure Bücherwand gelehnt. Warum tut ihr so, als ob es ihn nie gegeben hätte, warum erkundigt Ihr euch nicht, wie ich alleine zurecht komme, ich komme niemals zurecht. Witwen und Verheiratete, das geht nicht zusammen, schon weil Witwen so etwas sind wie ein ewiges Memento mori, weil man ihnen allerhand böse Wünsche zutraut, sei nur nicht so stolz auf den Herren Gatten, eines Tages bleibst du auch allein. Die Witwen zuhause zu besuchen, ist auch lästig, ist unter Umständen das Zimmer des Mannes seit seinem Tod unverändert geblieben, kein Gegenstand verrückt, die angebissene Semmel, verstaubt nun, auf einem Tellerchen, Abdruck seiner Zähne, daneben der letzte ihm auf den Schreibtisch gestellte Blumenstrauß, Verdorrtes in grüngelbem, schleimigen Wasser, im Sofakissen eine kleine Kuhle, sein letzter Mittagsschlaf, pomadenglänzend, und die Schubladen noch alle voll mit seinem Kram. Oder auch ganz anders, die Schubladen leer, die Schränke leer, alles schon in der ersten Woche verschenkt oder verkauft, Großreinemachen, neue Tapeten, neue Möbelbezüge, was etwa noch gefunden wird, eine Brille, ein altes Taschenmesser, kommt in den Mülleimer, alle Gegenstände haben den Geruch des Todes angenommen, der muß aus dem Haus. Verrücktheiten so oder so, Unsicherheiten der Witwenschaft, in der man wie auf Eis geht und dazu noch im Nebel, in dem sich nichts mehr überblicken läßt und nichts von sich selber versteht. So daß den Witwen, selbst den vielfachen Müttern und Großmüttern nichts übrig bleibt als ein Schattendasein, so resolut sie sich auch gebärden mögen, so sehr manche von ihnen nach einigen Jahren das Selbstbestimmenkönnen genießen. Wunde schatten, tatkräftige Schatten, irrsinnige, irr-sinnende auf jeden Fall.”
aus: Marie-Louise Kaschnitz: Tage, Tage, Jahre. Aufzeichnungen. Frankfurt/Main: Insel 1968, S.58/59
Abb.: Gabriele Stötzer: Fleischsäule Europa, 1991, im Internet.
07/13