“Ich habe während des ganzen Krieges unter den Mannschaften, bei denen ich mich befand, keinen einzigen Soldaten getroffen, der jemals ein Wort über den Eid verloren hätte. …
Ich selbst habe den Eid an einem strahlend sonnigen Märzmorgen des Jahres 1940 auf den Hof einer Kaserne bei Rastatt geschworen. Im zweiten Glied der ausgetretenen Ausbildungskompagnie stehend, sprach ich, zusammen mit den anderen, in Absätzen und mit rechtwinklig erhobener Schwurhand den Text nach:
‘Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.’
Während ich, ohne die Miene zu verziehen, diese Worte sprach, mußte ich in meinem Inneren über den plumpen Versuch der Kanalratte, mich an sie zu binden, lächeln. Schon die einfachste aller möglichen Überlegungen enthüllt ja die Absurdität dieses Eides. …
Der Eid wurde … unter Zwang geleistet. Auf seine Verweigerung stand der Tod. Er war damit null und nichtig. … Der Ungläubige kann die Worte der Eidesformel sprechen, ohne daß dieser Vorgang mehr berührt als Lippen und Zunge. Der Gläubige weiß, daß der Eid ihn im äußersten Sinne an Gott bindet. … Der Schwur setzt die Freiheit des Schwörenden voraus. Der Eid ist ein religiöser Akt, oder er ist sinnlos.
Die meisten deutschen Soldaten aber glaubten nicht an Gott, oder sie waren religiös indifferent, in der Art, daß sie, außer in den Stunden der fernsten Einsamkeit oder der Todesnähe, nicht darüber nachdachten, ob sie an Gott glauben sollten oder nicht. Aus diesem Grund war die Mehrheit der deutschen Soldaten überhaupt nicht eidesfähig.
Nicht eidesfähig war ferner ihr Führer, da er Gott leugnete und alle religiösen Regungen verfolgen ließ, weil sie dazu anregten, seine Person im Denken der Menschen auf das rechte Maß zurückzuführen. …
Aus dem in Freiheit geleisteten religiösen Akt des Eides, dem Rütli-Schwur freier Kämpfer, wurde ein Schamanen-Zauber, von Gepreßten zelebriert, in die Leere der Kasernenhöfe hineingesprochen und nicht einmal widerhallend von den Wänden eines gestorbenen Glaubens.”
aus: Alfred Andersch: Der Eid. In: Wagenbach, Klaus: Lesebuch. Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1959. Berlin: Wagenbach 1980, S.87-89.
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