MALTE WOYDT

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Habgier

Die Banken verschlechtern ihren Service von Tag zu Tag. Zuerst weigern sich die Schalterangestellten bestimmte Verrichtungen auszuführen, dann hängt man Schilder auf, daß Papierüberweisungen vortan 15 Tage brauchen. Dann werden die Öffnungszeiten meiner Filiale eingeschränkt. Dann “fusioniert” meine Filiale mit der bereits hoffnungslos überlasteten Nachbarfiliale. Usw. usf.

Dabei macht die Bank doch Riesengewinne! Warum also dieser Spar”zwang”? Gewinne machen reicht nicht mehr. Es muß schon ein bißchen mehr sein.

Da sitzen irgendwo Aktionäre (oder arme Amis, deren Rente von einem Pensionsfonds abhängt) und verlangen, daß die Renditen steigen und steigen und steigen. Die Globalisierung der Finanzmärkte führt dazu, daß von allen Wirtschaftssektoren aller Länder der Erde jetzt dieselben Renditen erwartet werden.

Einfach Gewinne machen reicht den Aktionären nicht mehr. Sie wollen immer mehr. Über den Aberwitz der Globalisierung, daß sie menschengemacht ist, und nichts weniger als ein Naturgesetz, wird zwar noch lange nicht genug aber doch immer öfter gesprochen und geschrieben. – Aber woher kommt diese plötzliche Habgier?

Na, daß sei doch die Natur des Kapitalismus, könnte darauf jemand antworten. Ja, stimmt, die alten Kapitalismustheorien haben endlich Recht. Hurra! Also anders gefragt: Warum hatten so viele simplizistische marxistische Theorien bisher nicht Recht? Die Furcht der Kapitalisten vor einem gewissen Gespenst ist natürlich nun nicht mehr da. Aber es hat sich auch unabhängig von den Veränderungen im Osten etwas getan.

Die Arbeiter wurden früher gebraucht, das gab ihnen Verhandlungsmacht. Und mit dieser Verhandlungsmacht haben sie Sozialsysteme erzwungen. Schließlich sahen die Kapitalisten, daß es gut ist, daß es auch für sie vorteilhafter ist, gewisse Zugeständnisse zu machen, wenn sie dafür keine Streiks mehr riskieren, die Mitarbeiter motivierter sind, und die sie umgebende Gesellschaft weniger feindlich wird. Man nannte das auch “Rheinischen Kapitalismus”.

Und heute? Heute haben die Erben derjenigen, die Linken immer ach so schnell vorwarfen, Klassenkampf zu betreiben, das Kriegsbeil ihrer Urgroßväter ausgebuddelt und selbst den Klassenkampf ausgerufen.
Ganz kurz vor der Kriegserklärung haben sie noch halbherzig versucht, ihre Truppen zu vergrößern, durch Mitarbeiteraktien, Volksaktien, Gewinnprämien und private Altersvorsorge. Sie haben mit dem Neoliberalismus eine aberwitzige Ideologie in die Welt gesetzt, die erklären soll, wie toll ihre Interessen mit dem Gemeinwohl zusammenpassen. Jetzt aber geht’s langsam ans Eingemachte.

Die “da oben” haben sich einseitig entsolidarisiert mit der sie umgebenden Gesellschaft. Bisher scheint ihnen das noch niemand persönlich übelzunehmen. Wenn aber (wie in den USA offenbar schon zu beobachten), die im 19. Jahrhundert von der Industrialisierung geschaffene Mittelklasse jetzt wieder abgeschafft wird, müßten wir uns doch auch von “denen” wieder desolidarisieren dürfen? Ich habe den Eindruck, daß wir schon bald dazu gezwungen sein könnten, uns zu entscheiden: Aktienbesitzende Arbeitnehmer oder zufällig nebenher noch arbeitende Aktionäre?
Es ist kein Zufall, daß Habgier von allen Religionen (mit Ausnahme vielleicht des Calvinismus?) als Sünde betrachtet wird. Habgier zerstört Gesellschaften. (Habgier – nicht “Besitzstandswahrung”…)

In welcher Gesellschaft wollen diese Gesellschaftszerstörer eigentlich selber leben? In wessen Gesellschaft? Sind Monaco und die Bahamas wirklich so aufregend, daß man es da auch ohne weitere Gesellschaft, ohne lebendiges Kulturleben etwa, auf Dauer aushalten kann? Sollten diese Herrschaften wirklich ein Atombunkerleben leben wollen?

Braucht uns das zu interessieren? Können wir uns nicht einfach ausklinken aus dem ganzen Aktiengedöns und unsere “echte” Wirtschaft von denen abkoppeln? Eine Wirtschaft, in der es normal ist, daß der Bäcker andere Gewinnmargen hat als der Autobauer? Die Habgierigen schießen wir solange auf den Mond.

Malte Woydt

09/04

09/10/2007 (10:00) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Carfree day

Now I have read this long list of ignorant comments, I am really getting angry.

Who is obstructing my mobility AS A PEDESTRIAN 365 days of the year? Cardrivers who park illegally on pedestrian sidewalks, cardrivers who park illegally on pedestrian crossings, cardrivers who ignore my priority on pedestrian crossings…

Who is obstructing my mobility AS A USER OF PUBLIC TRANSPORT 365 days of the year? Cardrivers blocking bus stops, cardrivers blocking bus lanes, cardrivers blocking tram beddings, cardrivers bypassing trams at the stop on the right side, while passengers get off the tram…

Who is obstructing my mobility AS A CYCLIST 365 days of the year? Cardrivers who open the door whithout looking back before, cardrivers who honk while I am trying to avoid car doors by riding in the middle of my lane, cardrivers who try to bypass me on MY lane (!), cardrivers who park on bicycle paths, cardrivers who ignore my priority at junctions …

And those cardrivers find it appropriate to be upset by ONE SINGLE carfree day per year (decided by other cardrivers in the European institutions – do not forget, that this is an EU initiative, which is only followed very late by Brussels now)?

Millions of people do all their daily ways without a car – how could somebody pretend that would be impossible one single sunday??

I invite everybody who is as upset as me viewing all these ignorant comments to join us at: www.placeovelo.collectifs.net

Malte Woydt, contribution to the forum of the magazine “Bulletin” on the 2002 European Carfree Day in Brussels

09/04

09/10/2007 (9:59) Schlagworte: EN,Notizbuch ::

Arbeitslosigkeit

Ich frage mich, ob die Politiker, die den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf ihre Fahnen schreiben, sich nicht im Ziel vergreifen. Schröder plakatierte “Arbeit. Arbeit. Arbeit.” und meinte damit Clintons (oder war es Blair?) Kampagne “Jobs. Jobs. Jobs.” ins Deutsche zu übertragen. Dabei meinen beide Slogans nicht dasselbe. Wer will schon Arbeit?

Arbeit ist Mittel zum Zweck, den Job zu behalten, der Job Mittel zum Zweck, ein Einkommen zu beziehen, ein Einkommen Mittel zum Zweck, ein angenehmes Leben führen zu können. Menschen, die es schaffen, sich ein angenehmes Leben ohne Einkommen oder Job zu organisieren, sind auch ohne Einkommen und Job zufrieden. Wobei sich die Geschichte natürlich nicht nur auf Geld beschränkt. Schließlich gibt die Arbeit einem auch das (gute) Gefühl, gebraucht zu werden, zu etwas nütze zu sein. Arbeit verschafft einem auch menschliche Kontakte, sowohl direkt am Arbeitsplatz als auch durch Einkommen und Ansehen, die sie einem verschafft.

Der Europäische Sozialfonds behauptet zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen: (1) Die Arbeitslosenstatistik möglichst klein zu bekommen, (2) Durch verlängerte Lebensarbeitszeit die Rentenkassen zu entlasten. Das ist Technokratengrütze, hat mit den Wünschen der Bürger nichts zu tun. Warum soll man bitte den fröhlichen Frührentner dazu zwingen, länger zu arbeiten, solange andere Menschen händeringend Arbeit suchen? Und warum sollte man einen Arbeitslosen, dem wohl in seiner Haut ist, dazu zwingen, einen Job anzunehmen?

Man könnte ja auch vom Einzelnen ausgehen. Das französische Schlagwort von der “Sozialen Ausgrenzung” kommt der Sache viel näher. Menschen sind einsam, Menschen sind arm, Menschen sind hoffnungslos. Das kann verschiedene Gründe haben, Arbeitslosigkeit kann einer davon sein.

Viele Menschen stecken in Problemen, aus denen sie aus eigener Kraft nicht herauskommen. Deswegen muß man ihnen helfen. Das ganze Problem läßt sich auf zwei Elemente reduzieren, ein individuelles und ein kollektives: Selbstvertrauen und gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

Es ist Blödsinn, Arbeitslose in die Selbstständigkeit zu drängen. Wer Unternehmergeist hat, findet auch einen Arbeitsplatz – oder lebt in einer Gegend, deren gesamtwirtschaftliche Lage weder Platz für Arbeitssuchende noch für Jungunternehmer hat (und ihn vielleicht aufgrund natürlicher Standortnachteile in den kommenden Jahrzehnten auch nicht kreieren wird).

Wir haben unsere Arbeitsplätze für Menschen mit niedrigem Ausbildungsstand nach Südostasien exportiert und wundern uns jetzt, daß sie bei uns keine Jobs mehr finden. Bildungsoffensiven und Fortbildungsangebote sind wichtig, und können den Menschen helfen, ihr persönliches Potential besser auszuschöpfen. Aber das hilft nicht jedem. Es ist kein Zufall, daß Behindertenwerkstätten boomen – Sie nehmen die Leute auf, die früher als Schauerleute im Hafen Säcke geschleppt haben.

Malte Woydt

Abb.: Boris Drucker, The New Yorker, 12.2.1972.

 

08/02

09/10/2007 (9:59) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Achtundsechziger 1

Jaaa, die über Dreißigjährigen. Sind das nicht die, von denen es einmal hieß, man solle ihnen nicht trauen? Natürlich hat Achim Schmollen in Vielem Recht, wenn er sich in der ZEIT (“Wir sind besser als die Alten”, 7.3.1997) über die Achtundsechziger beklagt. Aber ist er denn so anders? Er scheint zumindest eines mit ihnen gemeinsam zu haben: Man selbst gehört immer per definitionem der jüngstmöglichen Generation an.

Aber kurz noch ein Wort zu den Achtundsechzigern: Mir sind sie ja in zweierlei Form begegnet. Zunächst einmal als Lehrer in der Schule. Die hatten es in meiner Popper-dominierten Umgebung in den Achtzigern ziemlich schwer. Weniger, weil sie ihre Ideale unter den Schülern nicht wiederfanden. Vielmehr, weil sie nicht einsehen wollten, daß sie älter geworden waren, und uns inzwischen mit Notengewalt gegenüberstanden. Es ist unheimlich schwer, einem Über-Vierzigjährigen zu erklären, daß er “der Jugend” nicht mehr angehört, mag er nun noch so sehr “Vertrauenslehrer” sein, und soviele coole Sprüche draufhaben, wie er will.

Der zweite Kontakt zu Achtundsechzigern stellt sich unweigerlich ein, wenn man beginnt, sich politisch zu engagieren. Ich nehme ihnen ja nicht übel, daß sie von den alten Zeiten schwärmen wie Kriegsteilnehmer oder Spanienkämpfer vor ihnen. Ich denke, das wird jede Generation tun.

Da ist es schon nerviger, wenn Ältere ständig an uns Jüngeren herummäkeln, uns fehle der richtige Drive. Eine gewisse Zeit habe ich das ja sogar geglaubt. Inzwischen glaube ich eher, die politisch Engagierten waren immer eine kleine Minderheit und werden es auch bleiben. Wenn heute die große Mehrzahl der Studenten Studiengebühren etcetera ruhig hinnimmt, sollte man dabei allerdings nicht vergessen, daß immer noch mehr Leute protestieren, als damals überhaupt zur Uni gehen durften.

Damit wären wir dann auch schon bei dem, was mich am meisten an den “Achtundsechzigern” ärgert. Schließlich haben sie ja erst den massiven Ausbau der Universitäten bewirkt. Das ewige Gejammere über Angepaßtheiten, über den mißlungenen Marsch durch die Institutionen, über die offenbar unendliche Zahl von Niederlagen liegt wie dichter Nebel über der Geschichte. Erst historische Studien helfen einem aus meiner Generation zu verstehen, was “68” bewirkt hat. Die frühen 60er Jahre sind für uns ähnlich weit entfernt wie die Kaiserzeit. Genausowenig, wie wir uns kaisertreuen Hurrahpatriotismus vorstellen können, können wir uns die dumpfe Spießigkeit eines Deutschlands der 50er und 60er Jahre vorstellen.

Mein persönlicher Eindruck von den 68ern ist, daß sie Westdeutschland den Anschluß an den Westen verschafft haben. Dieses Land, daß seine “Kultur” immer als Gegensatz zur westlichen “Zivilisation” verstand, dieses Land hat sich in den siebziger Jahren in unglaublicher Weise modernisiert. “Mitteleuropa” ist für heutige Jugendliche aus Westdeutschland völlig unfaßbar. Wenn überhaupt, dann ist das ein Begriff, den Polen, Tschechen und Ungarn für sich benutzen.

Auch die nachfolgenden “Sozialen Bewegungen” haben dieses Land geprägt. In meiner Abiturklasse mußten sich die angehenden Wehrdienstleistenden rechtfertigen, warum sie diesen Drückebergerjob bei der Bundeswehr machten. Schließlich war allen klar, daß Arbeit mit Behinderten oder Körperpflege bei alten Damen einen mehr mitnehmen als in einer Kaserne Skat zu kloppen. Die einzig akzeptable Begründung war, daß es auf die Weise halt schneller ‘rum sei. Daß das vor der Friedensbewegung anders war, konnte man in den Leitfäden für Kriegsdienstverweigerer nachlesen, die allesamt in den engagierten Siebzigern geschrieben worden waren.

An die Achtundsechziger habe ich somit eigentlich nur eine Bitte: Vergleicht Eure Erfolge nicht immer nur mit Euren Zielen. Die habt Ihr sicherlich nicht erreicht. Vergleicht sie einfach mit den Zuständen, von denen Ihr ausgegangen seid. Dann waren die Erfolge gar nicht so klein, und ihr könnt das Jammern ein für alle Mal lassen. …

Malte Woydt, Replik auf einen ZEIT-Artikel

03/97

09/10/2007 (9:58) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Zuhören

“Was die kleine Momo konnte, wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonders, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.

Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchtem, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wußten, was sie wollten. Oder das Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder das Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, daß er sich grundsätzlich irrte, daß es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab, und daß er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!”

Michael Ende: Momo. Stuttgart 1973, S.15-16.

03/92

09/10/2007 (9:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zerstörungssucht

“Von der Zerstörungssucht der Masse ist oft die Rede, es ist das erste an ihr, was ins Auge fällt, und es ist unleugbar, daß sie sich überall findet, in den verschiedensten Ländern und Kulturen. … Am liebsten zerstört die Masse Häuser und Gegenstände

Da es sich oft um Zerbrechliches handelt, wie Scheiben, Spiegel, Töpfe, Bilder, Geschirr, neigt man dazu zu glauben, daß es eben diese Zerbrechlichkeit von Gegenständen sei, die die Masse zur Zerstörung anreizt. Es ist nun gewiß richtig, daß der Lärm der Zerstörung, das Zerbrechen von Geschirr, das Klirren von Scheiben zur Freude daran ein Beträchtliches beiträgt: Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen. Daß es so leicht ist, sie hervorzurufen, steigert ihre Beliebtheit, alles schreit mit einem und den anderen mit, und das Klirren ist der Beifall der Dinge. Ein besonderes Bedürfnis nach dieser Art von Lärm scheint zu Beginn der Ereignisse zu bestehen, da man sich noch nicht aus allzu vielen zusammensetzt und wenig oder gar nichts geschehen ist. Der Lärm verheißt die Verstärkung, auf die man hofft, und er ist ein glückliches Omen für die kommenden Taten.

Aber es wäre irrig zu glauben, daß die Leichtigkeit des Zerbrechens das Entscheidende daran ist. Man hat sich an Skulpturen aus hartem Stein herangemacht, und nicht geruht, bis sie verstümmelt und unkenntlich waren. … Die Zerstörung von Bildwerken, die etwas vorstellen, ist die Zerstörung der Hierarchie, die man nicht mehr anerkennt. Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distanzen, die für alle sichtbar sind und überall gelten. Ihre Härte war der Ausdruck für ihre Permanenz … nun sind sie gestürzt und in Trümmer geschlagen. …

Die Zerstörung gewöhnlicher Art, von der Anfangs die Rede war, ist nichts als ein Angriff auf alle Grenzen. Scheiben und Türen gehören zu den Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen. … In diesen Häusern stecken aber gewöhnlich, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde. Nun ist, was sie abtrennt, zerstört. … Sie können heraus und sich ihr anschließen. Man kann sie holen.

Es ist aber noch mehr daran. Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, … [er] fühlt … sich frei. … Alles, was Distanzen hält, bedroht ihn und ist ihm unerträglich. …

Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich. … Es ist … das kräftigste Symbol, daß es für die Masse gibt. Nach aller Zerstörung muß es wie sie erlöschen.”

aus: Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt(Main): Fischer 1980 [1960], S.14.-16.

09/10/2007 (9:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zeit

Die “Fähigkeit zu generationenübergreifendem Lernen, zur Weitergabe von Erfahrungen der einen Generation an die nächste in der Form von Wissen, ist die Grundlage für die allmähliche Verbesserung und Erweiterung der menschlichen Orientierungsmittel im Laufe der Jahrhunderte. Was man heute als ‘Zeit’ begreift und erlebt, ist eben dies: ein Orientierungsmittel. Als ein solches mußte der Zeitbegriff durch Erfahrung in einem langen, generationenübergreifenden Lernprozeß entwickelt werden. …

In den hochurbanisierten und -industrialisierten Gesellschaften der Gegenwart wird der Zusammenhang zwischen dem Wechsel der Kalendereinheiten und dem Wechsel der Jahreszeiten, ohne ganz verlorenzugehen, indirekter und lockerer, und in manchen Fällen, wie etwa der Beziehung zwischen Monat und Mondbewegung, ist er mehr oder weniger verschwunden. Menschen leben in viel größerem Ausmaß in einer Welt von Symbolen, die sie selbst geschaffen haben. …

Man sollte hinzufügen, daß die Entwicklung in diese Richtung alles andere als irreversibel ist und durchaus nicht geradlinig verläuft; es gibt darin viele Rückschritte, Umwege und Zickzackbewegungen. …

Das Wort ‘Zeit’, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert. …”

aus: Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1984, S.1-12.

Abb.: Amin Taasha: Melting Through Time, 2018, indoartnow, im Internet.

09/10/2007 (9:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Worte 1

“… Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.

Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte “Geist”, “Seele” oder “Körper” nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost.

Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Brachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.

Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.

Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen.

Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre …”

aus: Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos (1902), zit. nach https://www.gutenberg.aol.de/hofmanns/prosa/chandos.ph

Abb.: Bandu Darmawan: Pernyataan-Tidak-Tertulis (Unwritten Statement), art-jog-11, 2018, oumagz.com, im Internet.

 

09/10/2007 (9:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Widerstand

“‘Wer hält stand?’ fragte einer, der für seinen Widerstand zu Tode kam. Nicht die ‘Vernünftigen‘, die in ‘bester Absicht und naiver Verkennung der Wirklichkeit das aus den Fugen geratene Gebälk mit etwas Vernunft wieder zusammenbiegen zu können meinen’. Am Ende ‘treten sie resigniert zur Seite oder verfallen haltlos dem Stärkeren’. Auch die Reinheit eines ethischen Prinzips hilft nicht; wer sie vertritt, ‘geht dem Klügeren in die Falle’. Der ‘Mann des Gewissens‘, der sich einsam wehrt, schafft nichts angesichts ‘der Übermacht der Entscheidung fordernden Zwangslagen’. Das Ausmass der Konflikte, in denen er zu wählen hat, zerreisst ihn’. Wer den scheinbar sicheren Weg der Pflicht wählt, ‘wird schließlich auch noch dem Teufel gegenüber seine Pflicht erfüllen müssen’. ‘Wer es aber unternimmt, in eigener Freiheit in der Welt seinen Mann zu stehen, … wird in das Schlimme willigen, um das Schlimmere zu verhüten’, das doch das Bessere sein könnte. Auch die ‘Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit’ führt nicht weiter. ‘Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterlässt, nicht zur Ruhe kommen lassen.’

‘Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Massstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf.'”

aus: Dietrich Bonhöffer, zitiert bei Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München: Beck 2006, S.127/128.

11/06

09/10/2007 (9:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wessis

“War es in den 50er- und 60er-Jahren die entwurzelte nationale Rechte, die sich verzweifelt dagegen wehrte, nach dem politischen und militärischen Zusammenbruch auch die moralische Niederlage zu akzeptieren, wozu dann auch der Kampf gegen die ‘6-Millionen-Lüge’ gehörte, so ist es heute die obdachlose Linke, der im wahrsten Sinne des Wortes das Haus über dem Kopf zusammengekracht ist, und die nun in den Trümmern nach irgendwelchen vorzeigbaren und wiederverwendbaren Bruchstücken ihrer verlorenen Identität sucht. …

Warum tun sich Teile der linken Intelligenz in der Bundesrepublik so schwer mit dem Abschied von der DDR? …

Für Westler war die DDR eine Art Abenteuerspielplatz. … Man konnte den thrill genießen, weil man ihm nicht wirklich ausgesetzt war. …

Die deutschen Intellektuellen haben schon immer unter einem Mangel an Anerkennung gelitten. … Ganz anders dagegen die Lage der Intellektuellen, vor allem der Schriftsteller, in der alten DDR. Egal ob sie verfolgt oder gefördert, verboten oder veröffentlicht wurden, sie wurden in jedem Fall ernst genommen. … Kein Wunder, daß die West-Poeten neidisch zu den Kollegen im Osten rüberschauten und auf Abhilfe sannen, um den Standortnachteil auszugleichen. Ganz in die DDR zu ziehen, wäre nicht kommod gewesen, statt dessen wurden … joint venture Projekte mit dem Schriftstellerverband der DDR organisiert. … So wurde die deutsch-deutsche Annäherung zum bevorzugten hang out vieler Wichtigtuer, die sich nun optimal selbst verwirklichen konnten. …”

aus: Henryk M. Broder: Mit dem Hintern hier, mit dem Herzen dort oder Was war an der DDR so sexy?, SWF 2, 28.3.92, 20:30 Uhr.

Henryk M. Broder hat eine eigene Homepage mit vielen beißenden Artikeln: www.henryk-broder.de

03/92

09/10/2007 (9:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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