MALTE WOYDT

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Werbung

(FR)

“Ein Werbefritze ist ein Mistkerl der Scheiße an die Armen verkauft in dem er sie für dumm verkauft und nennt das kreativ sein.”

aus: Jan Bucquoy: Camping Cosmos, zitiert bei Claude Semal: Pour en finir avec. Bruxelles: Luc Pire 1997, S.51, (meine Übersetzung).

05/06

09/10/2007 (9:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Publicitaires

(DE)

“Un publicitaire, c’est un salaud qui vend de la merde aux pauvres en les prenant pour des cons et qui appelle ça être créatif.”

aus: Jan Bucquoy: Camping Cosmos, zitiert bei Claude Semal: Pour en finir avec. Bruxelles: Luc Pire 1997, S.51.

05/06

09/10/2007 (9:53) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Wahrheit 1

“Wer die Suche nach Wahrheit zu seiner Lebensaufgabe machen will, geht nicht in die Politik, sondern in die Wissenschaft. Je länger jemand in der Wissenschaft geforscht, nach Wahrheit gesucht hat, desto weniger ist er für die Politik brauchbar. … in der Politik [geht] es nicht um die Wahrheit …, sondern um die richtige Entscheidung. … Ob der Tunnel gebaut werden soll, ist eine Frage der Wertung. … Der Tunnel ist nicht wahr oder unwahr, sondern richtig oder falsch. …”

“Politik ist für Wahrheit nicht zuständig. Was wahr ist, läßt sich nicht beschließen, und schon gar nicht von Politikern … Beschließen läßt sich, was geschehen soll.”

“Das Kennzeichen politischen Redens ist nicht die Lüge, sondern das von Interessen und vom Willen gesteuerte Teilbild der Wirklichkeit. Man könnte es auch Teilwahrheit nennen. …

Wo Interessen im Spiel sind, ist das Gegeneinander unterschiedlicher, von Interessen geleiteter Bilder der Wirklichkeit üblich. … So arbeitet die Demokratie. Sie handelt mit Teilwahrheiten. Und sie darf dies tun, solange die Beteiligten es wissen.

Daß diese Form der Diskussion trotzdem auf Argwohn und den Vorwurf der Lüge stößt, hat mehr als einen Grund. Sicher spielt da die Sehnsucht nach Harmonie mit, nach dem einen, verläßlichen Bild der Wirklichkeit, der verordneten Wahrheit, wie sie Diktaturen anzubieten haben. … Aber es läßt sich nicht bestreiten, daß … jede Teilwahrheit immer in Gefahr ist, zur Lüge zu werden. Das beginnt schon da, wo sie mit einem Pathos der Wahrheit vorgetragen wird, das ihr nicht zukommt. …

Politiker haben das Recht und die Pflicht, ihre Entscheidungen und die Wertungen, die dazu geführt haben, mit ihrem Bild der Wirklichkeit zu begründen. Sie haben auch das Recht, den anderen Aspekt stillschweigend ihren Gegnern zu überlassen. … Aber wenn sie meinen, sie könnten mit entgegengesetzten Wertungen spielen, nach Bedarf immer wieder eine neue Version aus der Schublade ziehen, einmal das Pro, ein andermal das Kontra, dann ist der Vorwurf der Lüge unvermeidlich, auch wenn er im strengen Sinn des Wortes nicht zutrifft. …”

aus: Erhard Eppler: Privatisierung der politischen Moral? Frankfurt(Main): Suhrkamp 2000, S.33-42, etwas umsortiert.

01/03

09/10/2007 (9:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Völkerrecht

“… Regimewechsel aus Nachbarländern heraus sind inzwischen afrikanische Normalität. Aus Tansania heraus operierte schon in den 70er-Jahren die Befreiungsbewegung Mosambiks, aus Mosambik heraus die Simbabwes. Der heutige Herrscher des Tschad startete seine gewaltsame Machtergreifung im Sudan, der neue Putschist in der Zentralafrikanischen Republik im Tschad. Aus Ruanda und Uganda heraus wurde Zaires Diktator Mobutu gestürzt, in der heutigen Demokratischen Republik Kongo tummeln sich fremde Armeen. In Liberia, Sierra Leone, Guinea, Elfenbeinküste und Burkina Faso bestimmt eine Wechselwirkung von grenzüberschreitenden Rebellionen und Militärinterventionen die Politik.

All das geschieht jenseits des Völkerrechts oder überhaupt irgendeiner Form von Legalität. Und es ist den Völkerrechtswächtern der Welt größtenteils egal. Die UNO gibt manchmal Mandate, wenn ein Eingreifer sich Friedenstruppe nennt, meistens aber nicht. Genozid an hunderttausenden in Ruanda oder ein blutiger Staatszerfall im Kongo stören die internationale Diplomatie weniger als die Möglichkeit, dass die US-Armee Saddam Hussein entmachtet.

… Aus afrikanischer Sicht ist der Streit, wie viele UN-Resolutionen für einen Krieg gegen den Irak nötig sind, ähnlich absurd wie der mittelalterliche Theologendisput, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. In Afrikas Konfliktgebieten sind sämtliche Grundsätze des Völkerrechts, des regulären Umgangs zwischen souveränen Staaten, schon lange über den Haufen geschmissen worden. Aber erst eine US-Militäraktion gegen den Irak bereitet den Diplomaten in New York schlaflose Nächte und treibt die Schüler Deutschlands auf die Straße.

Institutionen und Rechtssysteme, die für sich selbst Universalität beanspruchen, können nicht glaubwürdig bleiben, wenn sie Vorgänge in einem Teil der Welt komplett aus ihrer Selbstreflexion ausblenden. Die Universalisten, die vom Weltrechtsprinzip träumen, sollten zumindest die Welt in ihrer Gesamtheit ernst nehmen. Oder sie müssen die Konsequenz ziehen und anerkennen, dass die angeblich universalen Grundsätze des Völkerrechts nie universal gewesen sind. Dann aber ist die Frage, was an einem per Krieg herbeigeführten Regimewechsel im Irak falsch ist, nicht mehr unter Hinweis auf abstrakte Rechtsgrundsätze zu beantworten. Es muss stattdessen eine Güterabwägung erfolgen: Wem nützen der Krieg und der Regimewechsel, und wem nützt seine Verhinderung?

Hier kann die Welt von Afrika lernen. Es sind die Diktatoren Afrikas, die bis heute verzweifelt am Prinzip der Nichteinmischung, der Unverletzlichkeit der Grenzen festhalten, während Demokraten von jeher das Recht auf Einmischung fordern. Ohne dieses wären die Entkolonisierung und die Idee einer panafrikanischen Bewegung zur Befreiung des Kontinents undenkbar gewesen. Die UNO griff in Afrika nie ein, um Kolonialregime zu stürzen oder Kolonialkriege wie in Algerien zu beenden, sondern erst gegen Afrikas einflussreichsten Entkolonisierer Patrice Lumumba im Kongo.

Die heute oft zu hörende Aussage, es gebe keinen gerechten Krieg, ist eine Verhöhnung der Opfer des 20. Jahrhunderts, die auf Kriege angewiesen waren, um Unrecht ein Ende zu setzen – in Nazideutschland und den von ihm besetzten Ländern, in allen Kolonialgebieten der Welt, in den Reichen Idi Amins, Pol Pots und eben Saddam Husseins.”

aus: Dominic Johnson: Das Völkerrecht gilt nicht. In: Taz. 25.3.2003, im Internet.

Abb.: Elisabetta Benassi: Ships and still more ships, 2017, im Internet. Thematisiert die Gründung von Liberia.

03/03

09/10/2007 (9:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Verteidigungsbereitschaft

“Laßt üs abermal betta
Für üsra Stadt und Flecka,
Für üsre Küh und Geißa,
Für üsre Wittwa und Waisa,
Für üsre Roß und Rinder,
Für üsre Weib und Kinder,
Für üsre Henna und Hahna,
Für üsre Kessel und Pfanna,
Für üsre Gäns und Enta,
Für üsre Oberst und Regenta,
An insonderheit für üsre liebi Schwitz;
Wenn der blutig Krieg wett ko,
Wett alls nä, so wetten wir üs treuli wehra
Und ihn niena dura loh,
Au den Find gar z’Tod schloh
Und dann singa:
‘Eia Viktoria! der Find ischt ko, hett alles gno,
Hett Fenster igschlaga, hetts Blie drus graba,
Hett Kugla drus goßa und d’Baura erschossa;
Eia Viktoria! nu ischt’s us, geht wiedri na Hus.'”

Schweizerisch Kriegsgebet, aus: Des Knaben Wunderhorn, altdeutsche Lieder, gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Bretano, 3.Teil, München: dtv, 1963, S.92.

09/10/2007 (9:51) Schlagworte: CH,DE,Lesebuch ::

Vergeltung

“Vergessen wir für einen Moment die nicht-deutschen Kriegsopfer, die Polen, Juden, Russen, Zigeuner usw. Dies waren ‘Untermenschen’, deren Schicksal den deutschen Kleinbürger nicht um den ruhigen Schlaf bringen muß. Aber er könnte sich wenigstens darüber aufregen, was die Nazis ihm und seinem Nächsten angetan haben. In den Jahren 1937 bis 1944 wurden vom Volksgerichtshof über fünftausend Todesurteile verhängt. Welche ‘Verbrechen’ zur Anklage, Urteil und Justizmord führten, ist inzwischen bekannt. Die zahlreichen Sondergerichte, die bereits 1933 eingerichtet worden waren, und die aufgrund der Reichtagsbrandverordnung und des Heimtückegesetzes urteilten, verhängten ebenfalls einige tausend Todesurteile. … Zwanzig- bis dreißigtausend Deutsche sind … dem legalen Terror … zum Opfer gefallen, die in den KZs ermordeten Politischen und Homosexuellen und die Euthanasie-Opfer nicht mitgezählt. …

Was ich nicht verstehe: zigtausend Ermordete haben Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Frauen und Männer gehabt, die unmöglich auf Seiten des mordenden Regimes gestanden haben können. Einige zehntausend Menschen müssen ein ehrenwertes Motiv gehabt haben, es dem Richter oder dem Staatsanwalt oder dem Blockwart, der ein Denunziant gewesen war, für den Tod des Nächsten heimzuzahlen. Und die Schuldigen waren ja nicht vom Erdboden verschwunden. … Sie haben sich nicht verstecken müssen, so sicher waren sie, daß ihnen niemand etwas antun würde. Warum? Diese Frage ist bis heute in Deutschland nicht beantwortet worden.”

aus: Henryk M. Broder: Das richtige Stück für das falsche Publikum. In: Joshua Sobol: Ghetto. Schauspiel in drei Akten. Hg. von Harro Schweizer. Berlin:Quadriga-Verlag Severin 1984: 224-226.

Henryk M. Broder hat eine eigene Homepage mit vielen beißenden Artikeln: www.henryk-broder.de

09/10/2007 (9:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vergangenheit

“Vergangenheit sind die im gegenwärtigen Sein irgendwie aufbewahrten Dinge. … Der Mensch ‘behält’ im eigentlichen Sinn. Darum ist … sein Sein geschichtlich. Das Tier behält auch noch; aber es ‘hat’ nicht Vergangenheit wie der Mensch, also auch nicht Geschichte wie der Mensch, sondern nur in einem niederen Grade. In der Pflanze ist die Vergangenheit objektiv noch zu sehen, ist aber nicht mehr subjektiv behalten. Die reine Materie ist an sich ohne Vergangenheit, es macht für die Lage und für das innere Wesen eines Steines nichts aus, was vorher mit ihm geschehen ist. Sein jetziger Zustand kann ohne Bezug auf Vergangenheit erkannt werden. … Die Zukunft ist die erwartete Realität der kommenden Wirklichkeiten. Sie hat also für die einzelnen Seinsstufen denselben analogen Charakter wie die Vergangenheit. Nur wer wesentlich Vergangenheit hat, und insoweit er sie hat, hat auch Zukunft.” S.152/53

aus: August Brunner: Die Grundfragen der Philosophie. Ein systematischer Aufbau. Freiburg im Breisgau: Herder 1933, S.152/153

09/10/2007 (9:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vereine

“‘… Kommt der Alte frühmorgens um elf mit hochrotem Kopf in die Registratur gepoltert und brüllt: ‘Warum legen Sie die Korrespondenz mit Vohwinkel unter F – machen Sie doch die Augen auf!’ – dann klebt er noch emsiger Papier an Papier und beugt den Kopf. Aber in ihm jubiliert eine innere göttliche Stimme: ‘Du Ochse – du kannst ja nicht einmal eine Ganzsache von einer einfachen Marke unterscheiden! Ignorant! Tropf! Laie! Komm mal in meinen Verein – da wärst du so klein…’ – ‘Sagten Sie was?’ ruft der Chef herüber. ‘Ich? nein, Herr Edler! Ich dachte nur…’

So hat der moderne Mensch, Preis ihm!, das fahrbare Paradies erfunden – eines, das man immer bei sich führen kann. Es verleiht inneren Halt und ein bißchen äußern auch. Es stärkt. Es ermutigt. Es reckt grade. Es ist ein inneres Gegengewicht gegen die Tücken des Alltags. …

Der Referendar ist gar kein Referendar, sondern ein bekannter Theosoph; der Bürovorstehener tut nur so, glaubt ihm nicht! – er hält den Rekord im Stabspringen; der Briefträger ist ein Radiofachmann; der Hotelportier Langstreckenschwimmer; der Rechtsanwaltsschreiber Motorradsportler. So ist jeder Mensch zweifach vorhanden…”

aus: Kurt Tucholski, Zwei Welten. In: ders.: Republik wider Willen. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 2.

01/04

09/10/2007 (9:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Urlaub

“Im Grunde hatte es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben am fremden Orte, dieser – sei es auch mühseligen – Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie kaum, daß sie vollendet ist oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren.

Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der ‘Erholung’, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich so zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen.

Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf die beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, – welches, bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, daß das eine nicht geschwächt werden kann, ohne daß auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe.

Über das Wesen der Langeweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im Ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit ‘vertreibe’, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und ‘langweilig’ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst und die verfliegen.

Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinns, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß das auf Gewöhnung beruhen.

Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Das ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode.

Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, – es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man ‘sich einlebt’, macht sich allmähliche Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt, oder besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit.

Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in der Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum einer Nacht.”

aus: Thomas Mann: Der Zauberberg. Dünndruckausgabe Berlin 1926, S.139/140.

Abb.: Chiharu Shiota: Accumulation – Searching for the Destination, 2021, Taipei Fine Arts Museum, im Internet.

08/93

09/10/2007 (9:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Unwirtlichkeit

“Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich funktionell entmischt. Die Unwirtlichkeit, die sich über diesen neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend. …

Kann man in … [den Städten], die keine von Bäumen bestandenen Boulevards mehr haben, keine Bänke, die sich zum Ausruhen im faszinierenden Kaleidoskop der Stadt anbieten – kann man in ihnen mit Lust verweilen, zu Hause sein? …

Wer an einem Herbsttag durch Amsterdam oder im Dezember durch Arles oder Venedig wandert, spürt das Unverwechselbare dieser Gebilde. Ob jemand hingegen die Wohnsilos von Ludwigshafen oder Dortmund vor sich hat, weiß er nur, weil er da- oder dorthin gefahren ist. Die gestaltete Stadt kann ‘Heimat‘ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes. …

Was wir zuließen, war die Egalisierung der deutschen Städte … Die Einebnung so verschiedener Stadtgestalten wie Nürnberg oder Dresden, Hamburg oder München ist leicht zu vollbringen … Nach dem Krieg fand sich keine Bürgerschaft, die sich ihrer Stadt mit einem Blick auf die Zukunft angenommen hätte … der Zerfall des stadtbürgerlichen Charakters war dem der Städte vorausgegangen. … Es ist eine ausgesprochene Denkfaulheit, zu erwarten, die Stadt von morgen werde ganz selbstverständlich ihre zunächst unbeabsichtigte, aber von Generation zu Generation langsam verwirklichte Funktion weiter erfüllen: der Ort der Selbstbefreiung des Menschen zu sein. …

Tausenderlei … Beispiele zeigen den Unsinn der Entmischung der Stadtfunktionen, die trotzdem weiter gefördert wird. Am wenigsten scheint diese Stadtzerstörung dem kritischen Verstand der Städtebewohner zu bekommen. Das ist es: die Stadt dieser Art wird zur Provinz, der citoyen, der Stadtmensch, zum bloßen Bewohner einer wenig rühmenswerten Gegend. … Wäre … das Dorf nicht so stickig, die Provinzstadt nicht so provinziell langweilig gewesen, so hätte dieser Zug in die großen Metropolen nie stattgefunden. Stadtluft hat ja tatsächlich zunächst einmal frei gemacht. …

Wir hatten Anlaß, die Zerstörung unserer Städte zu beklagen – und dann die Formen ihres Wiederaufbaus; wir haben gegenwärtig Anlaß, die Zerstörung der an die Städte grenzenden Landschaften zu beklagen – und haben wenig Hoffnung, daß diese Schäden wieder gutzumachen sind. Nur weil die Gewohnheit abstumpft, wenn Bäume fallen und Baukräne aufwachsen, wenn Gärten asphaltiert werden, ertragen wir das alles so gleichmütig. …

Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. …

Das Vorort-Einfamilienhaus … ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln. … [vom] Wüstenrot- und Leonberghaus, … [und der] Bimsblock-Tristesse, die sich um jedes einigermaßen stadtnahe Dorf legt, bis zu den geplanten Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt und die einem in ihrer Monotonie an den Ausfallstraßen der Großstädte die Lektion erteilen, daß alles noch viel schlimmer ist, als man es sich einreden möchte. …

Mit jedem Grundstück, das am Stadtrand parcelliert und zu schwindelhaften Bodenpreisen veräußert wird, schiebt sich der Horizont des Städters, an dem die Landschaft beginnt, weiter hinaus, wird Land der Allgemeinheit irreparabel entzogen. … dem Wachsen der Vorstädte [korrespondiert] die Langeweile …, die Langeweile der Monotonie. Von Kontrasterfahrung der Natur ist der Einfamilienhausbewohner für gewöhnlich so weit entfernt wie das Huhn des Hühnerhofs von der freien Flugbahn. … dies Parcellierung der Natur [wird] nicht das bringen …, was der von idealisierten Hoffnungen geschwellte Erbauer eines solchen Einfamilienhauses sich erträumt hatte. …

Da das historische Gedächtnis so kurz ist, kann man unbesorgt als eine der Grundfesten der freien Gesellschaft ausgeben, daß das Privateigentum auch dort heilig sei, wo es die Lebensform dieser Gesellschaft ernstlich beeinträchtigt. Dabei waren in großen Zeiten städtischen Lebens die stadtbürgerlichen Obligationen eindeutig dem Eigennutzen vorgeordnet gewesen. …

Es ist wenigstens tröstlich zu wissen: die neuen Häuser sind so windig entworfen, so schludrig gebaut, der Aufbau im alten Eigentumszuschnitt hat eine so ideenlose Monotonie entstehen lassen, daß es kein Kulturfrevel sein wird, dies alles besseren Konzepten zuliebe wo nötig abzureißen.”

etwas umsortierte Zitate aus: Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1965, S.9-143

Abb.: Lilly Lulay: Mindscapes nr. 96, 2012, im Internet.

09/10/2007 (9:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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