“‘Aber mit dem Verstehen’, klagte Dirk, ‘da hapert es doch immer sehr. Entweder ich höre so einen Bauern – da verstehe ich kein Wort. Oder ich lese, was ein sehr gebildeter Mann geschrieben hat – da verstehe ich jedes Wort, aber keinen Satz. Warum seid ihr Deutschen bloß so schwer zu verstehen?’ …
Machen wir die Probe, nehmen wir ein paar Beispiele, ein paar … ganz alltägliche Beispiele, aus Briefen, Zeitungen, Reden, Büchern abgeschrieben.
Ein deutscher Professor: ‘Die lebenschaffende Sprache ist kein Monolog. Sie ist auch nicht das Unisono gleichgeschalteter Massen. Sie ist eine Sprache der Verständigung im höchsten und eigentlichen Sinne des Wortes, Zwiesprache, die nur dadurch möglich ist, daß jeder seinen eigenen Sprachton finden soll, wie er auch nur in seiner eigenen Sprachebene angesprochen werden kann.’ …
[ein] Doktor phil et med.: ‘Der Gefahr der Vermassung durch den Verstädterungsprozeß mit allen seinen Gefahren vegetativer und emotionaler Fehlsteuerung und Fehlprägung kann außer durch sinnvolle Steuerung der apersonalen psychosomatischen Einflüsse selbst nur durch Persönlichkeitsbildung und Ermöglichung der ‘Bildung’ von Gemeinschaften jeder nur möglichen Art begegnet werden, da von seiten der ärztlichen Anthropologie als auf das bedrohlichste Zeichen einer Entartung des Verstädterungsprozesses hingewiesen werden muß auf die tödlich gefährliche menschliche Vereinsamung des einzelnen gerade und besonders in unserem Zeitalter organisierter Massen.’ …
… dieser Stil übt eine ungeheuerliche Anziehungskraft auf uns aus, und, was offenbar gar nicht allgemein bekannt ist: man kann, wen man erst einmal ein bißchen geübt hat, stundenlang so schreiben, ohne jede andere als die rein physische Anstrengung.
Das Schlimmste ist nicht, daß wir Deutschen tatsächlich so reden oder schreiben – es sind vielleicht gar nicht so viele von uns, die das tun. Schlimmer ist, daß diese Art von Schreiben bei uns, und daran ist gar nicht zu rütteln, hochangesehen ist. … Diese Art, aus Vorsicht Sprache zu kastrieren, den Sinn hinter Qualm verschwinden zu lassen, gibt es nicht nur in Deutschland. … In Deutschland gab es [aber] immer besonders viele Ämter und Kanzleien. Vor allem aber kam dem Amtsdeutsch von einer ganz anderen Seite her das Professorendeutsch weit entgegen. Auch seine Mutter ist die Vorsicht – in einem Lande wie Deutschland war Vorsicht allzu häufig geboten.
Da will beispielsweise jemand sagen: ‘Wer in der Großstadt lebt, muß damit rechnen, daß er seinen persönlichen Charakter verliert, daß er krank oder verrückt wird.’ Schriebe er das, dann hätte er … zwanzig Millionen Großstädter auf dem Hals, die sich alle einbilden, danke, noch ganz normal zu sein. … [Aber] nicht den Groll derer, die sich getroffen fühlen fürchtet er, [unser doppelter Doktor], sondern den Schaden, den sein Ruf erleiden könnte, wenn sich seine bedeutenden Aussagen als ‘einer wissenschaftlichen Nachprüfung nicht standhaltend’ erweisen sollten.
Die Kunst, geisteswissenschaftlich unwiderlegbar zu werden, besteht darin, so lange zu abstrahieren, bis der endlich gefundene Begriff alle konkreten Angriffsflächen verloren hat – damit freilich auch alle Farbe, alle Kraft, jeden praktischen Sinn. …
Im Amtsdeutsch will’s der Schreiber nicht gewesen sein, im akademischen Deutsch will er sich keine Blöße geben. …
Diese Sprache kennt keine Tätigkeitswörter und bevorzugt, wo sie der Verben nicht ganz entraten kann, blasse, bedeutungsleere Hilfszeitwörter. … Diese Sprache legt das wenige, was sie auszusagen hat, in die Substantive, wobei die abstrakte Form des Substantivs bevorzugt wird; sehr beliebt sind gelehrte Fremdwörter oder deutsche Abstrakta, die auf -ung enden, … Ung-geheuer …
[Schwer zu verstehen] ist heute Friedrich von Logaus feinziselierte Sinngedicht-Behauptung:
‘Kann die deutsche Sprache schnauben, schnarren, poltern, donnern, krachen,
kann sie doch auch spielen, scherzen, lieben, kosen, tändeln, lachen.’
Kann sie das noch? …”
Rudolf Walter Leonhardt: X-mal Deutschland. Hamburg u.a.: Deutscher Bücherbund, Revidierte und erweiterte Neuausgabe 1971, S.296-302