MALTE WOYDT

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Politisches Theater

“Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, daß ich nicht an ein in Permanenz politisches Theater glaube. Ich glaube wohl, daß von einem Theater politische Wirkung ausgehen kann. Sie kann ausgehen von einem Stück, von einem Regisseur, ja, von einem einzigen Schauspieler. Aber ein Theater, das Abend für Abend ohne eigene Phantasiezugabe paukt, was in Zeitungen und Meetings auch gepaukt wird, das ist ein Theater ohne Fluidum, ohne Schwingung und Strahlung, ein Theater nicht zum Mitgerissenwerden, sondern zum Abgewöhnen. Mir scheint, die einzige Möglichkeit politisches Theater zu machen, haben Sie versäumt, [Herr Piscator]. … Haben Sie einem einzigen jungen Dichter ans Licht verholfen? Sie haben ein Stück von Toller gespielt, vor dem kein bürgerlicher Direktor zurückgezuckt wäre, dann, das Ärgste, den ‘Rasputin’ eines schlechten russischen Konjunkturisten; schließlich den dramatisierten ‘Schwejk’, von dem Sie die großartige Blasphemie der Schlußszene einfach strichen. Waren es Bedenken vor der Zensur, waren es Erwägerungen, ob die Steigerung ins Unwirkliche etwa der Doktrin zuwiderliefe? Ich weiß es nicht. Die ‘Weber’, das klassische Proletarierstück, ließen Sie Jeßner, den aufreizeneden ‘Toboggan’ des jungen Menzel wird ein bürgerlicher Direktor wagen, Brechts englische Soldatenkomödie blieb der verspotteten Volksbühne. Ich glaube, Sie leiden nicht unter zuviel Anfeindung, sondern unter zu viel Lob. Befreien Sie sich von Ihren Korybanten. Die haben ein ganz entzückendes Rezept gefunden: bezweifelt man den politischen Sinn einer Aufführung, so wird tiefsinnig die ästhetische Bedeutsamkeit ausgespielt. Rührt man aber an diese, so heißt es nicht minder tiefsinning: aber die Politik ist doch gut! Mit Verlaub, das ist gar nicht proletarisch-revolutionär, sondern sehr glitschig-liberal.”

Carl von Ossietzky, Die Weltbühne, 6.März 1928, hier zitiert nach: Carl von Ossietzky Lesebuch, Reinbek: Rowohlt, 1994, S.183/184.

08/10/2007 (20:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Politikerberuf

“Größenordnungsmäßig dürfte die Zahl der Berufspolitiker in Deutschland bei vielleicht 10.000 liegen. … Als Richtgröße mag gelten, daß auch im neuen deutschen Sechs-Parteiensystem über 80 Prozent der politischen Berufspositionen von Mitgliedern der beiden ‘Volksparteien’ SPD und CDU/CSU besetzt werden. Sie bilden gewissermaßen die … Fahrstuhlschächte der demokratischen Elitebeföderung. Hier, in der Personalpolitik für die oberen Zehntausend, liegt … eine ‘entscheidende Schwachstelle’ unseres politischen Systems. …

Ein Problem, das im Mechanismus des Systems selbst angelegt ist, scheint tatsächlich die Berufsqualifikation der Volksvertreter zu sein. … Die öffentliche Zweckbestimmung von 414 Milliarden DM Bundesausgaben (Haushalt 1991) durch 662 Berufspolitiker erfordert andere Kenntnisse der Haushaltsführung als sie etwa Pädagoginnen, Berufsoffizieren, Kfz-Schlossern oder Zahnärztinnen, Maschinenbauern oder Architektinnen von Hause aus geläufig sind. … Kein Unternehmen könnte es sich leisten, daß die Letztentscheidung über alle seine Aktivitäten bei einer kleinen Gruppe interessierter Laien liegt. …

Was die hauptberuflichen Politiker künftig dringend benötigen, ist, erstens, eine realistische Einschätzung ihrer eigenen Funktion im politischen System und, zweitens, die entsprechende Ausbildung. … Wer meint ernsthaft, daß solch Leitbilder aus vorrepublikanischer Zeit wie ‘Dienst’, ‘Ehre’, ‘Berufung’ oder ‘Mission’ zu einem neuen Zombie-Leben erweckt werden sollen?”

Hans-Peter Bartels: Eine kurze Verteidigung der Politik, Göttingen: Steidl 1992, S.43-58.

Abb.: Sister Corita: Four, 1982, im Internet.

08/10/2007 (20:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Patriotismus

“man befahl uns den Patriotismus und wir wurden Patrioten: denn wir tun alles, was uns unsere Fürsten befehlen. Man muß sich aber unter diesem Patriotismus nicht dasselbe Gefühl denken, das hier in Frankreich diesen Namen führt. Der Patriotismus der Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus der Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er mehr das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jeden Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.”

aus: Heinrich Heine: Die Romantische Schule. In: Heines Werke in fünf Bänden, Weimar: Volksverlag 1962, Bd.4, S.207, frz. Original erschien 1834.

Abb.: Sinster Corita: E eye love, 1968, im Internet.

09/05

08/10/2007 (20:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Originalität

“… was ist denn überhaupt Gutes an uns, wenn es nicht die Kraft und Neigung ist, die Mittel der äußern Welt an uns heranzuziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar zu machen? … Es ist wahr, ich habe in meinem langen Leben mancherlei getan und zustande gebracht, dessen ich mich allenfalls rühmen könnte. Was hatte ich aber, wenn wir ehrlich sein wollen, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen, und das Gesehene und Gehörte mit einigem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben. Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter; alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinne sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun, als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten.”

Goethe, nach Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 17.2.1832, zit. nach Auswahl von Gerhard Merian, Berlin: Fritz Heyder 1911, S.211. Auch im Internet.

08/10/2007 (20:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ordnung 1

“Als ich aus den Weihnachtsferien in Italien zurückkam, fand ich ein Schreiben vom Finanzamt vor, das mich auf ein Guthaben von etwa tausend Mark hinwies. Ich öffnete weitere Post, die sich während meiner Abwesenheit angehäuft hatte, und fragte mich schon, was wohl zu tun wäre, um an das Geld zu kommen, als ich feststellte, daß es bereits auf mein Bankkonto überwiesen war. Ich hatte dem Finanzamt nie die Kontonummer mitgeteilt, aber der Beamte hatte einfach nachgesehen, über welche Bank ich meine Steuern zahlte. Für die Deutschen ist das ganz normal, mir kommt es vor wie eine Fata Morgana.”

aus: Roberto Giardina: Anleitung, die Deutschen zu lieben. München: Goldmann 1996, S.106 (ital.Orgin.-Ausg. 1994)

02/06

08/10/2007 (20:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Opfergesellschaft

“Die ‘Therapiegesellschaft’ entwickelt … schon gar keinen Begriff eines Subjektes mehr, dem verantwortliches Handeln abverlangt werden könnte. Wer Opfer der Verhältnisse, des Patriarchats, des Kapitalismus, der frühkindlichen Erziehung ist, der erwartet bei der Gerichtsverhandlung Freispruch. Eine machmal gewalttätige Enteignung hat sich da durchgesetzt, von Psychoboom und Feminismus verstärkt: Was immer wir tun, wer immer wir sind – eigentlich ist das Subjekt die Gesellschaft, die Erziehung, das System, die anderen. In den Orgasmusschwierigkeiten gleichsam das Versagen der Gesellschaft zu erkennen und in diesem Sinn das Private für politisch zu erklären, ist seither ein folgenreicher Gemeinplatz einer politischen Kultur geworden, der die Vorstellung persönlicher Verantwortung abhanden gekommen ist.”

Cora Stephan: Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte. Reinbek 1993: 115/116

08/10/2007 (20:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ökologische Kreisläufe

“Nach einem Satz von Heisenberg ist die Natur ‘immer ganz anders, als wir uns vorstellen. Das liegt an unseren Fragen. Denn die Natur kann nur so antworten, wie wir fragen’. Wer sie nach Gesetzen fragt, dem wird sie mit Gesetzen antworten, wer nach dem Zufall fragt, dem wird sie mit Zufall antworten, und wer nach Kreisläufen fragt, dem wird sie mit Kreisläufen antworten. … Es [ist] wissenschaftlich gesprochen, nicht möglich …, die Natur unter einem einzigen Prinzip … zu beschreiben.

Gerade das aber … ist konstitutiv für das Denken der naturalistischen Ökologie. Sie bildet die Brücke zur biologistischen Interpretation der Beziehungen zwischen Mensch und Natur. … ‘Ordnung’, in diesem Fall die Ordnung der ‘natürlichen Kreisläufe’, [ist] ganz sicher nicht eine Eigenschaft der Materie. Sie muß ihr von außen auferlegt werden. Theorien, wissenschaftliche Erklärungssysteme, schaffen die Welt, die sie dann beschreiben oder kritisieren. …

Die Natur des Menschen ist die Kultur. Eine Sichtweise, die heute dieses kulturelle Moment übersieht und nur auf Lehren der Natur aus ist, verfällt dem Mythos.

Die Vorstellung, daß sich die gesellschaftliche Ordnung an der Natur zu orientieren habe, nennt man Biologismus. … Als Sozialdarwinismus und Rassenbiologie [wurde er] die Basis der NS-Doktrin … und [fand] in der arisch-deutschen Herrenrasse ihren mörderischen Exekutor …, der ganz Europa in einem Meer von Blut ertränkte. …

Vielfalt bedeutet in dem einen System etwas völlig anderes als in dem anderen. … In resistenten Systemen ist Vielfalt ein Vorteil, in konstanten Systemen nicht; dort macht Vielfalt verletzbar. … Ein tropischer Regenwald beispielsweise ist so stabil, weil es einer so langen Zeit bedurfte, bis er als Ökosystem in dieser Form bestand. Er ist stabil im Sinne von konstant, aber nicht von resistent gegenüber Eingriffen. Bereits kleine Eingriffe in sein ‘Gefüge’ können ihn zusammenbrechen lassen. … Was folgt daraus für eine ökologisch geleitete Politik? Daß wir Vielfalt herstellen und schützen wollen, Vielfalt der Arten wie Vielfalt der kulturelle und sozialen Lebensformen, der individuellen Lebensentwürfe, und zwar um ihrer selbst willen … und nicht, weil es die Gesetze der Natur uns das ‘lehren’. Sie tun es nicht. …

Kreisläufe sind eine von vielen möglichen Vorstellungen, die sich die … die Menschen von der Natur machen können. Kreisläufe sind nicht ‘das Prinzip’ der Natur; sie sind nicht das grundlegende Ordnungsprinzip der Materie. Warum also sollten wir die Wirtschaft unserer Gesellschaften gerade nach diesem Prinzip einrichten? …

Alle von der industriellen Dynamik erfaßte und infiltrierte Natur ist … Kulturprodukt – wie z.B. der sterbende deutsche Wald, die Flüsse, die Binnengewässer usw. Auch in dieser Perspektive gilt: Die Natur des Menschen ist Kultur.”

Jochen Reiche: Ökologie und Zivilisation. Der Mythos von den natürlichen Kreisläufen” In: “Die Linke neu denken”. Berlin: Wagenbach 1985, S.51-59.

Abb.: Hideaki Shibata und Kazuya Matsunaga (“Yodogawa Technique”): Chinu – the Black Sea Bream of Uno, 2010, im Internet.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Obskurantismus

“Kurz gesagt, ich bin aus intellektuellen und politischen Gründen betroffen über die Verbreitung subjektivistischen Denkens. Intellektuell gesehen liegt das Problem darin, daß solche Doktrinen falsch sind (wenn nicht einfach bedeutungslos). Es gibt eine reale Welt; ihre Eigenschaften sind nicht einfach soziale Konstruktionen; Tatsachen und Nachweise sind ausschlaggebend. Würde jemand, der klar im Kopf ist, etwas anderes sagen? Und doch, viel zeitgenössisches akademisches Theoretisieren besteht aus Versuchen, genau diese offensichtlichen Wahrheiten zu verwischen, wobei die außerordentliche Absurdität durch eine obskure und prätentiöse Sprache verschleiert wird …

Wenn alles Diskurs und “Text” ist, dann ist das Wissen um die reale Welt überflüssig; und sogar die Physik wird zu einem weiteren Zweig der Kulturwissenschaften. Wenn darüberhinaus alles Rhetorik und “Sprachspiel” ist, dann ist innere logische Konsistenz ebenfalls überflüssig: eine Sprachhülle theoretisch aufgezäumter Sophisterei tut es dann genauso gut. Unverständlichkeit wird zur Tugend; Anspielungen, Metaphern, Wortspiele ersetzen Beweise und Logik. …

Was das Politische betrifft, so rührt mein Ärger daher, daß der meiste (wenn auch nicht aller) Unsinn dieser Art von einer selbsternannten Linken stammt. Wir sind Zeugen einer tiefgreifenden historischen Kehrtwendung. Denn während der letzten zwei Jahrhunderte war die Linke gegen jeden Obskurantismus auf der Seite der Wissenschaft; wir haben geglaubt, rationales Denken und unerschrockene Analyse der objektiven Realität (der natürlichen wie der sozialen) seien scharfe Waffen im Kampf gegen die Verblendungen, die die Mächtigen in die Welt gesetzt haben, – ganz abgesehen davon, daß sie menschliche Ziele sind, die ihren Wert in sich haben. Die Wende zu einer der Spielarten des epistemischen Relativismus, den viele ‘progressive’ und ‘linke’ Geistes- und Sozialwissenschaftler vollzogen haben, ist Verrat an einem wertvollen Erbe und untergräbt die ohnehin zerbrechliche Basis für eine progressive Sozialkritik. Das Theoretisieren über “die soziale Konstruktion der Realität” wird uns nicht helfen, ein effektives Mittel gegen AIDS zu finden oder die globale Erwärmung aufzuhalten. Genauso wenig können wir falsche Ideen in Geschichte, Soziologie, Wirtschaft und Politik bekämpfen, wenn wir die Begriffe wahr und falsch nicht anerkennen.”

Alan Sokal: A Physicist Experiments With Cultural Studies in: Lingua Franca, May/June 1996, pp. 62-64, dt. Übersetzung durch Hans-Joachim Niemann im Internet, Original im Internet.

Abb: Mous Lambarat.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Objektivität

Philosophen, besonders die rationalistischen Philosophen, gelangen auf ganz seltsamen Wegen zu ihren Pointen: … Sie benutzen abstrakte und von allen Emotionen gereinigte Begriffe. Und sie benutzen solche Begriffe nicht, um unsere Sicht zu schärfen oder unser Leben zu bereichern, sondern um uns in enge, dunkle Gänge zu stoßen. Gefühle, Sinneseindrücke, Wünsche stehen erst dann zur Debatte, wenn sie wie Schmetterlinge gefangen, getötet und auf irgendeine philosophische Folterbank gespannt worden sind. Überdies sind die Philosophen, vor allem die Rationalisten, an allgemeinen Prinzipien interessiert, nicht am Leben von Individuen. …

Sehen Sie sich doch nur mal an, wie Philosophiestudenten für ihren Beruf ausgebildet werden! Werden ihre persönlichen Eigenheiten einbezogen? Nein. Gestattet man ihnen, sich ‘authentisch’ auszudrücken? Selten. Bringt man ihnen bei, wie man mit anderen zusammenlebt, wie man deren Herz rührt? Ganz bestimmt nicht. Die alte Vorstellung von Objektivität, die eigentlich nichts anderes ist als die Kehrseite der Sterilität ihrer Erfinder, beherrscht die Szene nach wie vor, wenn auch in neuen, modischen Gewändern. …

Objektivismus und Relativismus … gehen [beide] … von der Voraussetzung aus, daß Dinge wie Wissenschaft, Magie oder auch das ‘Weltbild der Dogon’ genau definiert sind und immer in den durch die Definition gesetzten Grenzen bleiben. Dann verleihen die Objektivisten den Gesetzen, die innerhalb der Grenzen des bevorzugten Gegenstandes gelten, universelle Bedeutung, während die Relativisten darauf bestehen, daß die Gesetze innerhalb derselben Grenzen nur begrenzte Gültigkeit besitzen. Doch … gibt es keine Definition von Wissenschaft, die alle möglichen Entwicklungen abdeckt, und es gibt auch keine Form des Lebens, die nicht in der Lage wäre, radikal neue Situationen zu absorbieren. Begriffe … sind niemals vollkommen festgelegt; sie sind unzureichend definiert, mehrdeutig, sie fluktuieren … hin und her – und das muß auch so sein, sonst wäre ja (begrifflicher) Wandel unmöglich.”

Paul Feyerabend: Die Torheit der Philosophen. Dialoge über die Erkenntnis. Hamburg: Junius-Verlag 1995 (ital. 1991), S.93-95 und 131/132.

Abb.: Foundation Class Collective: Becoming, 2022, documenta15, Detail.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Novemberrevolution

“Die deutsche Revolution fand ein unwissendes Volk, eine Führerschicht bürokratischer Biedermänner. Das Volk rief nach dem Sozialismus, doch nie in den vergangenen Jahren hatte es klare Vorstellungen vom Sozialismus gewonnen, es wehrte sich gegen seine Bedrücker, es wußte, was es nicht wollte, aber es wußte nicht, was es wollte. Die Rechtssozialisten und Gewerkschaftsführer waren versippt und verfilzt mit den Gewalten der Monarchie und des Kapitalismus, deren Sünden waren ihre Sünden. Sie hatten sich abgefunden mit dem bürgerlichen juste milieu, ihr Ideal war die Überwindung des Proletariers durch den kleinen gehobenen Bürger. Ihnen fehlte das Vertrauen zum Volk, das ihnen vertraute.

Am Tage nach der Revolution nahmen sie den Kampf auf, nicht gegen die Feinde der Revolution, nein, gegen ihre leidenschaftlichsten Pioniere, sie hetzten und jagten sie, bis sie zur Strecke gebracht waren, und quittierten den Dank in den Salons der feinen Gesellschaft. Sie haßten die Revolution, Ebert hatte den Mut, es auszusprechen. …

Noch ehe der Landtag sein Werk beginnen kann, schickt die Augsburger Arbeiterschaft, müde der revolutionären Resolutionen, Delegierte zum Ministerium nach München, sie sollen die Proklamation der Räterepublik fordern. …

Die Kommunisten tun nicht mit …, die trieben, wie schon so oft in der deutschen Revolution, ein dunkles und für die Arbeiterschaft gefährliches Spiel, die Arbeiterschaft sei nicht reif, die Räterepublik werde ohne die Unterstützung Norddeutschlands sich nicht halten können. Das aber hätten sie vor Wochen sagen müssen, wo sie die Räterepublik in Parlamenten, Kongressen, Zeitungen und Versammlungen als nächstes politisches Kampfziel forderten … Man darf nicht Parolen verkünden, an die man nicht glaubt. Die Scheu vor der Wahrheit führt zum Selbstbetrug. Man darf nicht der Wirklichkeit, die anders sich zeigt, als man sie wünschte, ausweichen und sich entschuldigen, so war es nicht gemeint.

Die Unabhängigen zögern. Hat eine revolutionäre Partei das Recht, die Massen im Stich zu lassen? Revolutionäre Führer dürfen nicht blindlings Massenstimmungen folgen, auf die Gefahr, verkannt zu werden, müssen sie sinnlosen Aktionen wehren. Aber sind es nur Stimmungen? Sind nicht schon Tatsachen geschaffen, die unser Tun beeinflussen müssen?

Die Parteibürokraten beraten, das Volk handelt. In jener Stunde ist in Würzburg, Augsburg, Fürth, Schaffenburg, Lindau, Hof die Räterepublik ausgerufen. Wir hätten das Volk früher über die wahren Machtverhältnisse in Deutschland aufklären müssen, daß wir es nicht taten, war unsere Schuld …”

aus: Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Gesammelte Werke, Bd.4, München/Wien: Hanser 1996, S. 111, 122, 123

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08/10/2007 (20:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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