“Der Wahlausgang bestimmt über die Verabschiedung der Gesetze, aber er darf keine Rolle spielen bei ihrer Anwendung (oder Nichtbeachtung). Würde dies (es geschieht allzuoft) zur zerstörerischen Grundnorm der Ordnung, würden damit jene Regierenden beim Werben um Wähler bevorzugt, … die zum Beispiel bereit sind, drakonische Gesetze zu erlassen und deren Nichtanwendung als Tauschware beim Stimmenfang zu benutzen; ein System von Duldung und Schweigen, das bis in die letzten Verästelungen des sozialen Gefüges reicht. …”
“Wenn ein Gesetz einmal verabschiedet ist, wird seine Anwendung gegenüber dem Einzelnen … faktisch verhandelbar. … Wo Regierungen die Illegalität faktischer Machtpositionen tolerieren (oder ermutigen), wird jede Opposition de facto vom politischen Leben ausgeschlossen. Sie hat dann keine Alternative mehr anzubieten …, weil das alles auf dem Papier längst existiert. Der Antrag, bestehende Vorschriften endlich durchzusetzen, gleicht der frustrierenden Arbeit des Sisyphos, wird zum Regreß ad infinitum. (Ein Gesetz zur Beachtung bestehender, aber unbeachteter Gesetze, die ein vorher erlassenes Gesetz einschärfen…)”
“Der konservative Intellektuelle weist völlig richtig darauf hin, daß sich in der Demokratie alles um die Spielregeln dreht. Er vergißt hinzuzufügen, daß das Spiel ohne Mogeln gespielt werden muß … Eine Politik, die Gewalt, Einschüchterung, Stimmenkauf, Korruption toleriert, ist selbst dann antidemokratisch, wenn es Mehrheiten gibt, die sie unterstützen. Sie degradiert die Prozeduren bis hin zur Fälschung und macht damit das Prinzip: one man one vote null und nichtig. …”
“Man könnte … behaupten, daß die Revolution die Legalität zwar nie geliebt hat, daß eine Politik der Legalität heute die radikalste aller möglichen Revolutionen wäre. …”
“Die Notwendigkeit einer radikalen, sich immer weiter ausbreitenden Veränderung der Kultur und des durchschnittlichen Verhaltens darf nicht als Alibi verstanden werden für eine angebliche generelle Mitschuld (Wir alle sind dabeigewesen, als Komplizen mindestens, wir haben alle die Korrupten gewählt, die eine oder andere Ungesetzlichkeit haben wir alle begangen, den einen oder anderen Vorteil angenommen: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein…) – dies wäre nur das Vorspiel zu einer Generalabsolution für die Verbrechen der Herrschenden.”
“Legalität ist die Macht der Machtlosen.”
“Von einer … demokratischen Politik kann nur die Rede sein, wenn es wenig oder nichts, jedenfalls immer weniger gibt, was man für die Stimme eintauschen kann.”
“Die Werte von 1789 schienen, bis gestern, beinahe in erreichbare Nähe gerückt. Jedenfalls rhetorisch … Seitdem stellen sich Rechts und Links, im Hinblick auf ein universales Gemeinsames, nicht so sehr als zwei verschiedene Parteien, vielmehr als zwei verschiedene Verhaltensweisen dar, die der Heuchelei und die der Kohärenz. … Das Fazit mag für Intellektuelle enttäuschend sein: Es gibt nichts Neues zu sagen, aber es bleibt fast alles zu tun.”
aus: Paolo Flors d’Arcais: Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet. Berlin: Wagenbach 1997 [Originalausg. der darin versammelten Texte 1989-1994], S.14, 15, 24, 49, 57, 62, 64, 67 [anders zusammengesetzt]
10/06