“Herakles aber zog Linos, dem Lehrer, der seinem Schüler weismachen wollte, die einzige Freiheit, die es gäbe, sei die Freiheit der Kunst, den Hut so hart über die Augen, daß ihm das Nasenbein brach, und als der Magister weiterhin behauptete, die Kunst sei zu allen Zeiten unabhängig von den jeweiligen Wirrnissen zu genießen, steckte er ihn kopfüber in die Jauchegrube und ertränkte ihn, zum Beweis, daß waffenlose Schöngeistigkeit einfachster Gewalt nicht standhalten kann. … Er wollte es nicht glauben, daß der Terror, der seine Vaterstadt Theben in Bann hielt, dem mystischen Fürsten Erginos zuzuschreiben sei, den niemand je gesehen hatte, denn warum rülpste und kotzte Kreon, der König, und der gesamte Hofstaat, vor Übersättigung, warum trugen die Damen des Adels jeden Tag neue Kleider, wenn es über ihnen einen Gewaltherrscher gab, der unaufhörlich Abgaben verlangte. Um zu zeigen, daß es einzig und allein die Edelblütigen waren, die mit falschen Vorspiegelungen die unwissende Menge der Arbeitenden niederhielten und sie, während sie deren Obleute und Meister bestochen und gekauft hatten, bei Androhung unerhörter Strafen zur Schufterei zwangen, begab sich Herakles zur Insel der Marmorbrüche und holte sich von dort ein respekteinflößendes Gefolge. … Mit den Befreiten zog Herakles in Theben ein und verbreitete die Kunde, daß er Erginos gevierteilt und den Raben zum Fraß vorgeworfen habe. … Da weder Kreon noch seine verschlagensten Philosophen und Priester das Ungetüm, das so lange über sie regiert hatte, vorweisen konnten, mußte Herakles auch von höchster Stelle her gefeiert werden, und Kreon gab ihm zur Vermählung seine Tochter Megara … Dies war die Zeit der Umnachtung des Herakles, sagte Heilmann … Er merkte, betört von den Reizen der Megara, nicht einmal, daß seine Leibgarde ermordet und verscharrt worden war, kein Warnruf drang über die Schloßmauern zu ihm hinauf, und als er zum ersten Mal wieder, in seidenem Gewand, durch die Tore hinausging in die Stadt, in der, wie er meinte, die Epoche des Wohlstands begonnen hatte, fand er nur Bettler und verwilderte Kinder, die Steine nach ihm warfen, und ein paar vorbeigehende Handwerker wandten sich, als er nach ihnen rief, von ihm ab., Ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit konnte alles Erreichte zunichte machen, und nun waren Monate, vielleicht sogar Jahre vergangen, die er untätig verbracht, der Gegner aber genutzt hatte. … Wie hatte Herakles damit rechnen können, fragten wir uns, am Kanal, gelehnt ans rußige Eisengeländer, mit Knäufen, weißbefleckt vom Vogelkot, daß andere schon dagewesen wären, das von ihm Begonnene weiterzuführen, wie hatte er glauben können, daß eine vereinzelte Tat als Beispiel genügte, wie die Umwälzung zu erreichen sei. Er heulte vor Zorn, sagte Heilmann, er tobte im Schlafzimmer, weniger, weil dies ihm widerfahren war, ihm, der sich doch zu wehren verstand, sondern weil er die unzähligen anderen, die schwächer waren als er, und ohne Einfluß, im Stich gelassen hatte. Ehe er sich herauskämpfte aus den Spießen, die ihn umzingelten, erschlug er seine Frau und auch die Kinder, die sie ihm geboren hatte, alles, was ihn an die Oberen band, jede Verwandtschaft mußte ausgelöscht werden, hier gab es keine Versöhnung, und wir stimmten seiner Raserei zu, als grade ein Trupp der schwarzen Totengräber, den Totenkopf an der Mütze, gröhlend vorbeizog. … Seine Versäumnisse und die veränderte Lage im Land begreifend, mußte er sich jetzt einem langwierigen Plan zuwenden, mit dem er hoffte, das System der Mißgunst, der Herrschsucht und des Meuchelmordes … zu überwinden. … Als Herakles dann aus dem Gebirge von Erymanthos kam mit einem eingefangenen Eber, das gewaltige schaumtriefende Tier, an den Hinterbeinen hochgehoben, vor sich her in den Palast führte und in den Thronsaal, wo der von Gott gesandte König sich bebend vor Furcht in einen Tonkrug verkroch, gab es, bei aller Not, ein großes Gelächter, und manche begannen zu ahnen, was Herakles beabsichtigte. … Zwar waren immer noch viele der Ansicht, daß all das Wild, das er gejagt, all die Herden von Vieh, die er eingebracht hatte, doch nie ihnen, sondern immer nur den höfischen Herrn zugute kamen, andre aber machten sich auf, um es Herakles gleichzutun und die Gegenden jenseits des Archipelagos zu erkunden. Eine Zeit der Meeresfahrten, der umwälzenden Entdeckungen brach herein. Während die Aristokraten ihre Denker zu immer größeren Anstrengungen trieben, um sich die fernen Taten des Herakles zu ihrem Vorteil ausmalen zu lassen, sprachen die Eigentumslosen von ihm als dem ihren. … die Arbeitenden [bereiteten] sich auf den Tag vor, an dem er wieder unter ihnen sein würde … Noch wüteten die Folterknechte, und die Kerker füllten sich mit jedem, der willkürlich der Unzufriedenheit verdächtigt wurde. Wo aber die wahren Gefangenen saßen, zeigte sich eines Morgens, vor Sonnenaugfgang, als Herakles in Theben eintraf, in Begleitung eines riesigen Hundes, bei dessen Geheul alles, was ein festes Haus hatte, sich unter den Betten verkroch, während die in den Hütten, oder die, die unter freiem Himmel nächtigten, aufhorchten und ihm entgegenliefen, als hätte sie eine frohe Posaune gerufen. Den seit altersher als unangreifbar dargestellten Wächter der höllischen Ordnung hatte Herakles, bei seinem letzten Vorstoß ins Innre des Weltbaus, mit Leichtigkeit, singend, wie gesagt wurde, aus den erdigen Tiefen raufgezogen … die Bewohner von Theben … sahn, auf welch dürren räudigen Beinen sich die Herrschaft von Betrug und Lüge aufrecht hielt … Zuende also mit der Festschmiedung ans Leiden für den, der das Neue dachte, offen alles in Theben, in Mykene, fürs Zeitalter der Gerechtigkeit. … [Aber] nicht Frieden folgte nun, davon hätten wir doch gehört, vielmehr brachen weitere Feldzüge an, Kriege, umfassender als je zuvor. Herakles ließe sich jetzt jedoch nicht mehr wegdenken von der Seite der Versklavten, sagte Heilmann, beim Kreischen der Räder einer vollbeladenen Straßenbahn, die, vom Alexanderplatz kommend, in die Rosenthaler Straße einbog, er habe verdeutlicht, daß allen Zaubersprüchen begegnet, daß alles sagenhafte Getier überwunden werden konnte, und ein Sterblicher sei es, der solches vermochte. … Und doch, sagte Heilmann nach einer Weile, als wir ins zerschlißne, von gekrümmten Titanen gestützte Hoftor traten, und doch kam er um unter furchtbarer Pein, niemandem gelang es, ihm das mit dem vergifteten Blut des Nessos getränkte Hemd von der Haut zu reißen, und ihn daran zu hindern, sich im Wahnsinn des Schmerzes in den immer brennenden Scheiterhaufen zu werfen, auf dem Berg Oite.”
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes. Werke in sechs Bänden, Dritter Band, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1991: S.20-25.