MALTE WOYDT

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Humanistischer Fundamentalismus

“Die Berichterstattung vom [Kriegs-]Schauplatz hat zur Leitlinie der Kriegserzählung einen humanistischen Fundamentalismus … Die Botschaft der Medien, in Worten oder effektiver noch in Bildern vermittelt, ist immer dieselbe. Gewalt ist böse, militärische schon gar keine Lösung, sondern das zu beseitigende Problem. …

Zum humanistischen Fundamentalismus gehört … auch, dass die Hisbollah, die Palästinenser, ja die arabische Welt insgesamt quasi infantilisiert wird. …

Wird die Hisbollah, werden die Verlautbarungen ihres Chefs Nasrallah und die Taten seiner Anhänger in der humanistischen Berichterstattung nicht so behandelt, als hätte es Israel mit einer Jungensbande zu tun, die es auf ärgerliche Klingelscherze, aber nicht auf die Vernichtung Israels abgesehen hat? …

Nur eine herzlose Rationalistin, ja Zynikerin kann dann darauf insistieren, dass die aktuelle Kindertotenquote erstens auf das Desinteresse der Hisbollah am Schutz ihrer Leute überhaupt zurückgeht und zweitens ihrer Alterszusammensetzung insgesamt so ungefähr entspricht. …

Unser fundamentalistischer Humanismus, von den Medien transportiert, kennt … keine Feinde. Er geht auf Selbstanklage oder analysiert die Fehler, die Israel natürlich im Kampf um seine Selbsterhaltung ununterbrochen gemacht hat. Die anderen, die kriegführenden Staaten von 1948 bis zur PLO, Hamas oder Hisbollah werden als Rebellen, als letztlich unverantwortliche, sympathieheischende Kinder ausgeblendet. …

Nebst den Bildern von klagenden Frauen und toten Kindern werden wir hautnah durch Interviews informiert. … Keine Feinde weit und breit. Nur Menschen, die platt gesagt, in Frieden frühstücken wollen. So anrührend diese Erzählung über den bösen Krieg und seine unschuldigen Opfer auch ist, so unpolitisch aber auch – um nicht zu sagen: verdummend.”

aus: Katharina Ruschky: Frühstück in Frieden. taz, 15.8.2006

08/06

08/10/2007 (11:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Herausforderung

“Häufig wollen Politiker, wenn sie von Herausforderung sprechen, einfach beteuern, … daß ihnen eine Sache wichtig ist. … Andererseits wollen sie sich zu nichts verpflichten … Wer ‘challenge’ sagt, muß auch eine ‘response‘ haben, oder sich wenigstens darum bemühen. Tut er beides nicht, so wäre er nach der Geschichtsphilosophie Toynbees am Ende.”

Erhard Eppler: Kavalleriepferde beim Hornsignal. Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache. Frankfurt: Suhrkamp 1992, S.163.

08/10/2007 (11:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Herakles II

“Daß es immer diese riesigen, feuerschnaubenden, vielleibigen, vielköpfigen Wesen sind, die auf ihn zukommen oder die er aufstöbert in abseitigen Gefilden, spricht davon, daß er mehr in seinen Träumen als im Alltäglichen verhaftet war. … Die uns überlieferte Vielzahl seiner Taten, die ihn so berühmt machte, ist einem Stundenbuch gleich, einer Serie von Votivbildern, auf denen die einzelnen Stationen vermerkt sind, wir, wie auch die Historienerzähler vor uns, haben darin die Gestalt eines Helfers in der Not, eines Retters erkannt, der für seine Tapferkeit mit höchstem Glück belohnt wurde. Was aber, fragte ich mich, war das für ein Glück. War es das Glück darüber, daß nun beßre Zeiten gekommen, und die meisten Greuel und Verheerungen abgewendet worden waren. Keinesfalls. Nun begann es erst recht mit den Kriegen, und das Darben wuchs in den Städten. Daß er, nachdem er sich auch mit einem gewöhnlichen Tod nicht begnügen konnte, sondern unter unfaßbaren Qualen zugrunde ging, von den Göttern wieder aufgenommen wurde und fortan entrückt dem Olymp angehörte, machte ihn mir verdächtig. Warum sahn die Höchsten ihn am Ende als ihresgleichen an, wenn nicht deshalb, weil er nichts getan hatte, um ihre Stellung zu erschüttern, ja weil es ihm eigentlich nur gelungen war, den Glauben an übermenschliche, das heißt göttliche Fähigkeiten zu verbreiten. … Die Unklarheit, die er hinterließ, führte wohl auch dazu, daß grade jene, die wir für seine Widersacher hielten, ihn für sich in Anspruch nahmen. Den Handelsherren, den Bankleuten, allen, die nach Gewinn, nach Erfolg trachteten, wurde er zum Schutzheiligen, der Schlemmerei, der Libertinage wurde er zum Vorbild, die Notleidenden wußten nur noch wenig mit ihm anzufangen. Hinzu kam, daß er zum Inspirator des Kolonialismus wurde, mit ihm begann das Zeitalter der griechischen und ionischen Ausfahrten übers Meer bis zum Ende der Welt, seine Schilderungen des Reichtums fremder Länder hatten die Begüterten, die Unternehmer dazu verlockt, ihr Geld im Schiffsbau zu investieren und sich die fernen Bodenschätze zu erschließen.”

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes. Werke in sechs Bänden, Dritter Band, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1991: S.315/316.

08/10/2007 (11:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Herakles 1

“Herakles aber zog Linos, dem Lehrer, der seinem Schüler weismachen wollte, die einzige Freiheit, die es gäbe, sei die Freiheit der Kunst, den Hut so hart über die Augen, daß ihm das Nasenbein brach, und als der Magister weiterhin behauptete, die Kunst sei zu allen Zeiten unabhängig von den jeweiligen Wirrnissen zu genießen, steckte er ihn kopfüber in die Jauchegrube und ertränkte ihn, zum Beweis, daß waffenlose Schöngeistigkeit einfachster Gewalt nicht standhalten kann. … Er wollte es nicht glauben, daß der Terror, der seine Vaterstadt Theben in Bann hielt, dem mystischen Fürsten Erginos zuzuschreiben sei, den niemand je gesehen hatte, denn warum rülpste und kotzte Kreon, der König, und der gesamte Hofstaat, vor Übersättigung, warum trugen die Damen des Adels jeden Tag neue Kleider, wenn es über ihnen einen Gewaltherrscher gab, der unaufhörlich Abgaben verlangte. Um zu zeigen, daß es einzig und allein die Edelblütigen waren, die mit falschen Vorspiegelungen die unwissende Menge der Arbeitenden niederhielten und sie, während sie deren Obleute und Meister bestochen und gekauft hatten, bei Androhung unerhörter Strafen zur Schufterei zwangen, begab sich Herakles zur Insel der Marmorbrüche und holte sich von dort ein respekteinflößendes Gefolge. … Mit den Befreiten zog Herakles in Theben ein und verbreitete die Kunde, daß er Erginos gevierteilt und den Raben zum Fraß vorgeworfen habe. … Da weder Kreon noch seine verschlagensten Philosophen und Priester das Ungetüm, das so lange über sie regiert hatte, vorweisen konnten, mußte Herakles auch von höchster Stelle her gefeiert werden, und Kreon gab ihm zur Vermählung seine Tochter Megara … Dies war die Zeit der Umnachtung des Herakles, sagte Heilmann … Er merkte, betört von den Reizen der Megara, nicht einmal, daß seine Leibgarde ermordet und verscharrt worden war, kein Warnruf drang über die Schloßmauern zu ihm hinauf, und als er zum ersten Mal wieder, in seidenem Gewand, durch die Tore hinausging in die Stadt, in der, wie er meinte, die Epoche des Wohlstands begonnen hatte, fand er nur Bettler und verwilderte Kinder, die Steine nach ihm warfen, und ein paar vorbeigehende Handwerker wandten sich, als er nach ihnen rief, von ihm ab., Ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit konnte alles Erreichte zunichte machen, und nun waren Monate, vielleicht sogar Jahre vergangen, die er untätig verbracht, der Gegner aber genutzt hatte. … Wie hatte Herakles damit rechnen können, fragten wir uns, am Kanal, gelehnt ans rußige Eisengeländer, mit Knäufen, weißbefleckt vom Vogelkot, daß andere schon dagewesen wären, das von ihm Begonnene weiterzuführen, wie hatte er glauben können, daß eine vereinzelte Tat als Beispiel genügte, wie die Umwälzung zu erreichen sei. Er heulte vor Zorn, sagte Heilmann, er tobte im Schlafzimmer, weniger, weil dies ihm widerfahren war, ihm, der sich doch zu wehren verstand, sondern weil er die unzähligen anderen, die schwächer waren als er, und ohne Einfluß, im Stich gelassen hatte. Ehe er sich herauskämpfte aus den Spießen, die ihn umzingelten, erschlug er seine Frau und auch die Kinder, die sie ihm geboren hatte, alles, was ihn an die Oberen band, jede Verwandtschaft mußte ausgelöscht werden, hier gab es keine Versöhnung, und wir stimmten seiner Raserei zu, als grade ein Trupp der schwarzen Totengräber, den Totenkopf an der Mütze, gröhlend vorbeizog. … Seine Versäumnisse und die veränderte Lage im Land begreifend, mußte er sich jetzt einem langwierigen Plan zuwenden, mit dem er hoffte, das System der Mißgunst, der Herrschsucht und des Meuchelmordes … zu überwinden. … Als Herakles dann aus dem Gebirge von Erymanthos kam mit einem eingefangenen Eber, das gewaltige schaumtriefende Tier, an den Hinterbeinen hochgehoben, vor sich her in den Palast führte und in den Thronsaal, wo der von Gott gesandte König sich bebend vor Furcht in einen Tonkrug verkroch, gab es, bei aller Not, ein großes Gelächter, und manche begannen zu ahnen, was Herakles beabsichtigte. … Zwar waren immer noch viele der Ansicht, daß all das Wild, das er gejagt, all die Herden von Vieh, die er eingebracht hatte, doch nie ihnen, sondern immer nur den höfischen Herrn zugute kamen, andre aber machten sich auf, um es Herakles gleichzutun und die Gegenden jenseits des Archipelagos zu erkunden. Eine Zeit der Meeresfahrten, der umwälzenden Entdeckungen brach herein. Während die Aristokraten ihre Denker zu immer größeren Anstrengungen trieben, um sich die fernen Taten des Herakles zu ihrem Vorteil ausmalen zu lassen, sprachen die Eigentumslosen von ihm als dem ihren. … die Arbeitenden [bereiteten] sich auf den Tag vor, an dem er wieder unter ihnen sein würde … Noch wüteten die Folterknechte, und die Kerker füllten sich mit jedem, der willkürlich der Unzufriedenheit verdächtigt wurde. Wo aber die wahren Gefangenen saßen, zeigte sich eines Morgens, vor Sonnenaugfgang, als Herakles in Theben eintraf, in Begleitung eines riesigen Hundes, bei dessen Geheul alles, was ein festes Haus hatte, sich unter den Betten verkroch, während die in den Hütten, oder die, die unter freiem Himmel nächtigten, aufhorchten und ihm entgegenliefen, als hätte sie eine frohe Posaune gerufen. Den seit altersher als unangreifbar dargestellten Wächter der höllischen Ordnung hatte Herakles, bei seinem letzten Vorstoß ins Innre des Weltbaus, mit Leichtigkeit, singend, wie gesagt wurde, aus den erdigen Tiefen raufgezogen … die Bewohner von Theben … sahn, auf welch dürren räudigen Beinen sich die Herrschaft von Betrug und Lüge aufrecht hielt … Zuende also mit der Festschmiedung ans Leiden für den, der das Neue dachte, offen alles in Theben, in Mykene, fürs Zeitalter der Gerechtigkeit. … [Aber] nicht Frieden folgte nun, davon hätten wir doch gehört, vielmehr brachen weitere Feldzüge an, Kriege, umfassender als je zuvor. Herakles ließe sich jetzt jedoch nicht mehr wegdenken von der Seite der Versklavten, sagte Heilmann, beim Kreischen der Räder einer vollbeladenen Straßenbahn, die, vom Alexanderplatz kommend, in die Rosenthaler Straße einbog, er habe verdeutlicht, daß allen Zaubersprüchen begegnet, daß alles sagenhafte Getier überwunden werden konnte, und ein Sterblicher sei es, der solches vermochte. … Und doch, sagte Heilmann nach einer Weile, als wir ins zerschlißne, von gekrümmten Titanen gestützte Hoftor traten, und doch kam er um unter furchtbarer Pein, niemandem gelang es, ihm das mit dem vergifteten Blut des Nessos getränkte Hemd von der Haut zu reißen, und ihn daran zu hindern, sich im Wahnsinn des Schmerzes in den immer brennenden Scheiterhaufen zu werfen, auf dem Berg Oite.”

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes. Werke in sechs Bänden, Dritter Band, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1991: S.20-25.

08/10/2007 (11:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Helden

“Die Männer, die vorher nur dastanden und gar nicht mutig wirkten, eilen ihr sofort zu Hilfe. Sie machten nicht den Eindruck von Menschen, die ihre Zeit auf sinnvolle Art verbringen. Kleine Maulhelden ohne höhere Ambitionen, die nur herumlungern und lästern. Da tritt auf einmal ein Notfall ein und sie setzen ihr Leben aufs Spiel. Sie rennen in das brennende Haus, um die Kinder zu retten. Sie reagieren ganz spontan, ohne zu zögern. Ebenso selbstverständlich, wie sie vorher an den Straßenecken herumstanden und den Frauen schöne Augen machten, haben sie jetzt diesen ganz natürlichen Reflex. Sie wirkten nicht wie Helden, bevor dieses Unglück passierte, das Heldentum von ihnen verlangt. Keiner kann ein Held werden, wenn er seinen Moment nicht bekommt. Vorher weiß man selbst nicht, wie man sich verhalten wird. Man kann nur hoffen.”

Frederico Fellini, zit. in ZONG 56.

08/10/2007 (11:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Handeln

“‘Wissen Sie, wo der Unterschied zwischen Ihnen und David besteht? … David hat eine wirkliche Schleuder gebraucht, während Sie einen Artikel veröffentlichen wollen, der nachweist, wie böse Goliath ist.’

‘Aber der Artikel ist meine Schleuder!’

‘Das ist Ihr Trugschluß! Er ist nichts als ein Stück Literatur … Sie, Pierre, sind ein Opfer gewisser falscher Lehren über die Demokratie. Zu diesen Irrlehren gehört der Glaube an die Presse und an die unmittelbare Wirkung der Literatur. Man hat Ihnen gesagt, Freiheit sei identisch mit Pressefreiheit … Es ist eine Illusion, mit der man Gutgläubige täuscht und sie veranlaßt, zu schreiben und zu lesen, anstatt zu handeln, selbst wenn ein Gegner vor ihnen auftaucht, für den die Worte wie Freiheit, Schreiben und Lesen überhaupt nicht existieren. Man delegiert das, was man zu tun hätte, an die Presse. Handeln – das bedeutet: irgendwo fließen Lettern aus einer Setzmaschine.’

‘Ich danke Ihnen, Mondello, Sie befreien mich von meiner letzten Hemmung.’

‘Hemmung wovor?’

‘Ich steige aus. Ich habe es vorhin schon Solange mitgeteilt.’

‘Was, Sie wollen jetzt kneifen, Pierre?’

‘Sie überzeugen mich doch selbst von der Nutzlosigkeit alles dessen, was ich bisher gedacht habe. Oder nicht?’

‘Aber doch nur, damit Sie sich überlegen, ob nicht etwas getan werden könnte, das Sinn hat.’

‘Es gibt nichts dergleichen. Wir leben in einer Welt der falschen Alternativen. Ich kann keine der Faktionen wählen, die heute miteinander kämpfen. Auch nicht das kleinere Übel. Das kleinere Übel ist für mich das größte. Ich gebe zu, daß ich bis heute abend an eine dritte Kraft geglaubt habe: die Öffentlichkeit. Sie haben mir diese Illusion genommen. …

‘Ich achte Ihren Entschluß, Pierre. Vielleicht ist es gut für Sie, wenn Sie eine Weile fortgehen. Fortgehen, um zu erkennen, daß Freiheit nicht bedeutet, irgendeine Ideologie wählen zu können, sondern das Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft. … Es gibt ein ganz sicheres Erkennungszeichen des Unrechts: dort, wo nichts mehr Sie auffordert zu schreiben, wo nur ein einziger Gedanke Sie beherrscht: zu handeln, nichts als zu handeln: dort ist es, wo das Böse herrscht.’

‘Mondello, geben Sie der Literatur denn gar keine Chance mehr?’

‘Nicht der Literatur, die Sie meinen, Pierre. Jener Sekundär-Literatur, die sich für die Geschichte selbst hält, weil sie sich aufregt und diskutiert. Sie ist nur Symptom, nichts weiter. Große Literatur tut etwas anderes: sie breitet lange und langsame Entwicklungen vor, sie streut in ein paar Gedanken und ein paar Formen Samen aus, die die Welt erneuern und sie an etwas Altes erinnern: Augustinus hat das getan, Pascal, Spinoza, Marx, Kafka…'”

Alfred Andersch: In der Nacht der Giraffe. In: ders.: Gesammelte Erzählungen. Zürich: Diogenes 1971, S.150-154.

Abb.: Joseph Kossuth: Words are Deeds, 1991.

08/10/2007 (11:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Größenwahn

“Man hat lange angenommen
Größenwahn
sei ein Wahnsinn der Kleinen
Die Größeren
glaubten sich
deshalb sicher vor ihm

Ohne von dieser Annahme zu wissen
können wir aber den Zustand der Welt
nicht erklären
oder nur
indem wir aus ihm darauf schließen
daß diese Annahme
verbreitet gewesen sein muß”

Erich Fried: Rückschluß auf unseren Zustand. In: ders.: Die Beine der größeren Lügen / Unter Nebenfeinden / Gegengift. Drei Gedichtsammlungen. Berlin: Wagenbach 1976 (1969), S.27.

Abb.: Atlas von Kleinzschocher, Foto Norbert Lotz, im Internet.

08/10/2007 (11:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Grenzregionen

“… Es gibt zum Beispiel ein Stereotyp der Grenzregionen (das sogar im Augenblick in Mode kommt), das dem Stereotyp der Nation entgegengesetzt wird, das heißt der Verschlossenheit in sich selbst, der Xenophobie usw. Das Zusammentreffen verschiedener Kulturen, Sprachen, Dialekte trägt sehr schöne Früchte. Als Beispiele eignen sich Triest oder Wilna oder das tschechische Prag, als die tschechische, deutsche und jüdische Kultur und vielleicht noch einige andere Kulturen miteinander in Kontakt standen, oder auch das kaiserlich-köngliche Wien usw. Dieses Stereotyp faßt natürlich einige tatsächliche Merkmale, vielleicht sogar den Kern der Sache, aber auch dieses Stereotyp muß man sprengen – Grenzregionen erweisen sich sehr oft als Mythos. Oft handelt es sich um taube, mit Brettern vernagelte Provinz, der die Menschen nur entkommen wollen …

… Wenn man in einer solchen mit Brettern vernagelten Welt aufwächst, wie das damals Wilna war, wie es die ganze Sowjetunion war, aber Wilna als kleine Stadt besonders, dann regt sich in einem etwas, was Mandelstam die Sehnsucht nach der Weltkultur genannt hat. Diese Sehnsucht hat im Grunde positive Folgen. Man beginnt, sich für etwas zu interessieren, was über die Grenzen der eigenen Erfahrung herausreicht. … Ich entdeckte auch, daß die großen russischen Dichter viel würdiger mit dem Regime kämpften als meine Mitbürger. … Im Jahr 1956 fand ich Zugang zur polnischen Sprache … Diese Zeitschriften waren im Vergleich mit der litauischen und russischen Presse enorm interessant. … Einer meiner Freunde führte mich damals in die Werke von Mrozek und Gombrowicz ein … Hier lernte ich wiederum viel: vor allem den ironischen Blick auf die eigene Nationalität … Ich meine den Spott, der in Litauen sehr fehlte und bis heute fehlt. In Litauen herrscht ein frommes Verhältnis zum Litauertum … In der Unabhängigkeit wird das vermutlich vergehen, aber dazu bedarf es der Schriftsteller, die Mythen einreißen, Schriftsteller eben wie Gombrowicz. Die sind aber bei uns noch nicht zu sehen.”

Tomas Venclowa. In: Teresa Walas (Hg.) (1999): Stereotypen und Nationen. Krakau: Miedzynaradowe Centrum Kultury, S.342-346.

08/10/2007 (11:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gott

“Gott erschuf die Welt und ertränkte sie dann, nicht, um ein reineres Geschlecht hervorzubringen, sondern um sie mit Räubern und Tyrannen zu bevölkern. Und nachdem er die Väter ertränkt hatte, starb er für deren Kinder, allerdings ohne Erfolg, und bestrafte hundert Völker wegen der Unwissenheit über seinen Kreuzestod, in der er sie doch selber gehalten hatte.”

Voltaire, zit.in: Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe, München 1973.

abb.: Hilmi Fabeta: Bandung, GOD, 2011, indoartnow, im Internet.

09/94

08/10/2007 (11:10) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Glück

“… bei Aristoteles [ist Glück] ein Selbstzweck, mit anderen Worten: das Streben nach einem Leben, das vor allem in der Erfahrung von Vollständigkeit und Autarkie besteht. …

Im Unterschied zu Platon erweist sich ‘Glück’ bei Aristoteles weniger als ein Ergebnis rhetorischer Einsicht, sondern als Ausdruck praktischer Lebensführung, die zudem nicht nur einigen wenigen, sondern vielen gemeinsam zukommt. …

… dadurch, daß Menschen danach streben, tugendsam zu leben, nicht aber, unmittelbar glücklich zu werden, wird die Erfahrung des Glücks wahrscheinlicher. …

Aristoteles … stellt … sich die Frage, ob man einen Menschen wirklich vor dem Ende seines Lebens glücklich preisen könne. … Man kann Aristoteles … so [lesen], daß zwar nicht jedes in irgendeiner Hinsicht mißlungene Leben im Ganzen als unglücklich zu bezeichnen sei, wohl aber eine massive Kumulierung von Umständen die Erfahrung von Glück in aller Regel verhindere. …

Glücksgefühle und ein geglücktes Leben sind nicht miteinander identisch, und es ist alles andere als klar, daß ein geglücktes Leben eines ist, das durch eine Anhäufung von als glückhaft erlebten Augenblicken charakterisiert ist. Wohl aber können sich angesichts eines geglückten Lebens Glücksgefühle einstellen. Es empfiehlt sich daher in einem ersten Schritt, Gefühle unmittelbaren Glücks, also Affekte erster Ordnung, die spontan auftreten, von emotionalen Haltungen zweiter Ordnung, von reflexierten Gefühlen zu unterscheiden. …”

aus: Micha Brumlik: Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden. Berlin/Wien: philo 2002, S.117-119.

Abb.: Sister Corita: Alive, 1982, im Internet.

07/06

08/10/2007 (11:10) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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