MALTE WOYDT

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Glokal leben

“Transnationale Ortspolygamie, das Verheiratetsein mit mehreren Orten, die verschiedenen Welten zugehören: das ist das Einfallstor der Globalität im eigenen Leben, führt zur Globalisierung der Biographie. …

Die Gegensätze der Welt finden nicht nur dort draußen, sondern im Zentrum des eigenen Lebens, in multikulturellen Ehen und Familien, im Betrieb, im Freundeskreis, in der Schule, im Kino, beim Einkaufen an der Käsetheke, Musik hören, Abendbrotessen, Liebemachen usw. statt. Ohne daß dies gewußt oder gewollt würde, gilt mehr und mehr: Wir alle leben glokal.

Um sich der Reichweite dieser Veränderungen bewußt zu werden, ist es sinnvoll, sich daran zu erinnern, daß die Kulturkritik ein ganzes Jahrhundert lang sich auch darüber ausgeheult hat, daß im Zuge fortschreitender Modernisierung die Menschen immer stärker in den Käfig ihrer hochspezialisierten Kleinstwelten eingeschlossen werden. …

An einem Ort leben heißt nicht mehr zusammenleben, und zusammenleben heißt nicht mehr am selben Ort leben.

‘Wie soll man es beurteilen, wenn marokkanische Mädchen in Amsterdam Thai-Boxen veranstalten, Asiaten in London rappen, irische Bagels, chinesische Tacos produziert werden, Indianer in New York den mardi gras feiern und mexikanische Schülerinnen beim Tanzen in griechischen Togas Isidora Duncan nacheifern? … Das Konzept der globalen kulturellen Vereinheitlichung … greift ganz entschieden zu kurz. Es übersieht die Gegentendenzen – den Einfluß nicht-westlicher Kulturen im Westen. Es läßt die Ambivalenz des Globalisierungsprozesses außer acht und verkennt die Rolle des Lokalen bei der Rezeption der westlichen Kultur – z.B. die Vereinnahmung und Umgestaltung westlicher Elemente durch die dortigen Kulturen. Es läßt die gegenseitige Beeinflussung der nicht-westlichen Kulturen außer Betracht. … Die westliche Hegemonie ist relativ jungen Datums, sie beginnt um 1800, genauer mit der Industrialisierung.’ (Pieterse)

Transnationales Zusammenleben heißt – soziale Nähe trotz geographischer Distanz. Oder: Soziale Distanz trotz geographischer Nähe. Was folgt daraus für die Identität der Menschen? Gewiß nicht, dies belegen empirische Studien, Anomie, Zerfall, Auflösung des Sozialen.”

Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt(Main): Suhrkamp 1997: S.129/130, 154/155, 178.

Abb.: Mous Lambarat, 2023, im Internet.

08/10/2007 (11:09) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Globalisierung 1

“Transnationale Konzerne haben ein Interesse … an Staaten, die schwach sind, aber trotzdem Staaten bleiben. … Der gesellschaftliche Kommunikationsfaden zwischen Reichen, die globalisiert, und Armen, die lokalisiert werden, [droht] zu zerreißen, weil zwischen Globalisierungsgewinnern im obersten Oben und Globalisierungsverlierern im untersten Unten keine verpflichtenden Arenen mehr existieren, in denen um Ausgleich und Gerechtigkeit gefunden werden könnte. …

Inzwischen [stammen] 53 Prozent aller wirtschaftlichen Wertschöpfungen von transnationalen Konzernen … . Damit schwinden die Einflußmöglichkeiten des Nationalstaats und der jeweiligen Regierungen, Arbeitsplätze zu schaffen und den Wohlstand der Bürger zu sichern. … Nur europäische Institutionen erlauben es, das Steuer-Dumping zu beenden und die ‘virtuellen Steuerzahler’ neu zur Kasse zu bitten …

Der Widerspruch zwischen nationalstaatlichem Handlungsrahmen und transnationalen Problemen [verleitet] dazu …, in vorbestimmter Untauglichkeit immer mehr nationalstaatliche Kontrollgesetze zu erlassen, um politischen Aktionismus zu demonstrieren, die das Problem, auf dessen Lösung sie zielen, vollständig verfehlen … Der Ruf nach nationalen Gesetzen … führt zwangsläufig immer schneller ins Leere. …

Ein transnationaler Kapitalismus, der keine Steuern zahlt und die Erwerbsarbeit abschafft, verliert seine Legitimität. Er wird – wie Schumpeter dies vorausgesagt hat – funktionslos-parasitär. … Es wäre ein schlichter, aber höchst folgenschwerer, vielleicht suizidaler Irrtum, die Marktwirtschaft aus ihrem politischen Entstehungskontext in Europa herauszulösen und gleichsam nackt zu betreiben. … Transnationale Wirtschaftsakteure haben ihre Achillesferse. Die grenzenlose Selbstverwirklichung des Kapitals muß sich nämlich binden: erstens an Orte, zweitens an Produkte. Auch flüchtiges Kapital muß … Güter und Dienstleistungen erzeugen, welche die Menschen kaufen, wählen sollen, also auch abwählen können. …

In den höheren Etagen der Wirtschaft und der Politik [beginnt] das Rätselraten über die Frage: Wieviel Armut verträgt die Demokratie? …

Eine starke, demokratische Europäische Union könnte ihr Gewicht als größte Handelsmacht der Welt für wirkliche Reformen einsetzen …”

aus: Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt(Main): Suhrkamp 1997, S.164, 166, 176, 223, 227, 232/233, 255, 263.

Abb.: Louis XVI, nach seiner Festnahme in Varennes. Anonyme Karikatur, im Internet.

08/10/2007 (11:09) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gewalt, privatisierte

“Seit 1989 hat die Gewalt nicht abgenommen, sondern zugenommen. Dies ist aber außerhalb dessen geschehen, was als Krieg definierbar ist. … Wenn sechs Banditen ein Hotel überfallen, dann ist die bewaffnete Polizei am Zug, und wenn 600 Banditen eine Stadt überfallen, dann nennen sie es Krieg. Manche Pazifisten und die Militärs sagen dann: Das ist nichts für uns, denn das ist nicht der Krieg, den wir gelernt haben. …”

“Die Gegenden der Erde, besonders Afrikas, in denen oft nicht mehr klar ist, wer hier gegen wen kämpft, nennen die Franzosen ‘entités ingouvernables’.” – “In der ‘entité chaotique ingouvernable’ wirbt ein Warlord Söldner an, bewaffnet sie, terrorisiert mit ihnen die Gegend, aus der die wilde Truppe zu leben sich entschieden hat. … Der Staat ist nicht, wie Hegel meinte, das Endziel, der natürliche Endzustand gesellschaftlicher Organisation. Er kann auch wieder zerbröseln.”

“Militärische Gewalt wird zu einer käufliche Dienstleistung, ähnlich wie im Dreißigjährigen Krieg. Privatisierte Gewalt ist kommerzialisierte Gewalt. … Im Umgang miteinander sind die Söldner der privatisierten Gewalt manchmal geradezu rücksichtsvoll. Sie lieben den Kampf gegeneinander nicht. Dabei springt nichts heraus. Man hält sich lieber an die Zivilbevölkerung … Im Ersten Weltkrieg kam auf zehn gefallene Soldaten ein getöteter Zivilist. Im Zweiten Weltkrieg war es schon ein Zivilist auf zwei Soldaten. Wo die privatisierte Gewalt sich austobt, kommen auf einen getöteten Soldaten fünf ermordete Zivilisten. …”

“Im 16. Jahrhundert haben die Landesfürsten … [ihr] Gewaltmonopol gegen Raubritter und Wegelagerer durchgesetzt. Im 14. Jahrhundert waren es die wenigen Städte, die sich durch solide Mauern und wohlbewachte Tore sichern konnten, während die 90%, die in Dörfern lebten, ungeschützt willkürlicher Gewalt ausgesetzt blieben. Wie wird es im 21. Jahrhundert sein?”

“Warum privatisiert sich die Gewalt? Warum wandert sie aus staatlicher Obhut aus? Da gibt es ganz banale Gründe: Moderne Waffen sind leicht zu handhaben, können von Zehnjährigen getragen und bedient werden. Der illegale Waffenmarkt wird gut bedient. … Ein weniger banaler Grund: Der weltweite Trend zur Privatisierung. Wenn man schon einmal dem Markt prinzipiell mehr zutraut als politischen Entscheidungen, dann leuchtet nicht mehr ein, warum nicht auch die innere und sogar die äußere Sicherheit besser in Privathand aufgehoben wären. Unsere Konzerne schützen sich seit langem selbst. Man nennt das Werkschutz. Wir haben in Deutschland schon mehr Angestellte privater Sicherheitsagenturen, als wir Polizisten haben. …

Daß die Privatisierung der Gewalt noch längst nicht so zum Thema geworden ist, wie sie es verdient hätte, hat wohl damit zu tun, daß dagegen links wir rechts Hemmungen wirksam sind. Auf der Linken ist noch die Erinnerung wach an Che Guevara und den Vietcong, an die idealistischen Freiheitskämpfer, die sich gegen staatlichen Terror auflehnten. Auch Pazifisten wagen sich nicht an das Thema. Pazifismus ist das unbedingte Nein zum Krieg. Was wird aus dem Pazifismus, wenn ihm der Krieg abhanden kommt? Auf der Rechten mag man nicht zugeben, daß die Privatisierung der Gewalt etwas zu tun hat mit der Welle der Privatisierungen, die der Neoliberalismus in Gang gesetzt hat, daß die Entstaatlichung der Gewalt die äußerste Konsequenz einer Ideologie ist, die Ent-Staatlichung zum Programm gemacht hat. …

[Man] kann nicht jede Gewalttätigkeit als Krieg bezeichnen. Ein Krieg verlangt zum Beispiel, daß es eine Instanz gibt, die ihn beginnen und beenden kann. Eine solche Instanz gibt es heute in den seltensten Fällen. … Gegenüber privatisierter Gewalt ist das Militär bislang so hilflos wie die Pazifisten. … Den ‘Krieg’, der hier zu führen wäre, haben die Militärs nicht gelernt. Nichts ist ihnen mehr zuwider als die Bekämpfung von Banden, die überall und nirgens zu lokalisieren, deren Ziele unklar, deren Methoden unberechenbar sind. … [Und] was tut der Pazifist, wenn eine Gewalt sich ausbreitet, für deren Zähmung eigentlich gar nicht das Militär, sondern die Polizei zuständig ist? Welcher Pazifist fordert die Abschaffung der Polizei?”

“Berichte aus Bosnien und dem Kosovo zeigen, daß inzwischen der Respekt der Pazifisten vor den Soldaten wächst und daß die Soldaten froh sind, wenn da ein paar Pazifisten versuchen, den Haß abzubauen. … Die Soldaten können allenfalls das massenhafte Morden beenden. Die Pazifisten können erst arbeiten, wo die Soldaten eben dies getan haben.”

aus: Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe, Frankfurt(Main): Suhrkamp 2001, S.303-315 und: Erhard Eppler: Privatisierung der politischen Moral? Frankfurt(Main): Suhrkamp 2000, S.87-94. Neu zusammengesetzt…

Abb.: Dadang Christanto: Violence III, 1995, ohdmuseum, im Internet.

01/03

08/10/2007 (11:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gelassenheit

“Man [kann] die Ordnung der Welt nicht zum Guten verändern …, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das Überwinden ist nur fruchtbar, wenn es mit Selbstüberwindung verbunden ist.

Der Friede in mir ist eng mit dem Frieden in der Welt verbunden. Auch er ist Forderung. Es ist schwer ihr zu folgen, weil sie zugleich Zufriedenheit und Nichtzufriedensein verlangt. Zufriedensein: ein Element des Friedens. Sich nicht zufriedengeben: unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung des Friedens. …

Zum inneren Frieden, zur Gelassenheit und zur Freude, die nötig sind, um tatkräftig zu sein, gehören sowohl der beglückte Blick auf die weißen Segel, die in der Hamburger Abendsonne die blaue Alster mit dem blauen Himmel verbinden, wie der Blick nach innen, bei dem die Zeit stillsteht und die Umwelt verschwindet.”

Alfred Grosser: Die Doppelnatur des Friedens. Laudatio für Marion Gräfin Dönhoff bei der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels in der Paulskirche, Frankfurt(Main), 17.10.1971. In: ders.: Wider den Strom, München: Hanser 1975, S.32

Abb.: Max Liebermann: Alster, 1910, im Internet.

08/10/2007 (11:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gegenwart 1

“Vor allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft noch Vergangenheit; diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntnis da, sofern sie dem Satz zum Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt und in der Gegenwart wird nie einer leben, sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch kein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. …

Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie, und dasselbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. … reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. …

Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart; wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. …

… und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft nach dem Tode zu forschen, vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen; sie wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch nicht.”

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Halle: Hendel o.J. (1859), I,§54

08/10/2007 (11:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

History 1

(DE) (NL)

“[Hegel] … planted in the generations leavened by him that admiration for the ‘Power of History’, which transforms practically every moment into a naked admiration of success and leads to idolatrous worship of the factual. For this service people nowadays commonly repeat the very mythological and, in addition, the truly German expression ‘to carry the bill of facts

But the person who has first learned to stoop down and to bow his head before the ‘Power of History’, finally nods his agreement mechanically, in the Chinese fashion, to that power, whether it is a government or public opinion or a numerical majority, and moves his limbs precisely to the beat of strings plucked by some ‘power’ or other. …

Create in yourselves a picture to which the future is to correspond, and forget the myth that you are epigones. You have enough to plan and to invent when you imagine that future life for yourselves. But in considering history do not ask that she show you the ‘How?’ and the ‘With what?'”

aus: Friedrich Nietzsche: On the Use and Abuse of History for Life (1874). translated by Ian C. Johnston 1998, Volltext im Internet.

08/10/2007 (10:19) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Geschichte 1

(EN) (NL)

“[Hegel] hat … in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der ‘Macht der Geschichte’ gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung ‘den Tatsachen Rechnung tragen’ allgemein eingeübt hat.

Wer aber erst gelernt hat, vor der ‘Macht der Geschichte‘ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ‘Ja’ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in dem irgendeine ‘Macht’ am Faden zieht.”

“Formt in Euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergeßt den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf jenes zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, daß sie euch das Wie? das Womit? zeige.”

Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie. (1874) In: ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. München Goldmann 1992, S.127,115

08/10/2007 (10:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fundamentalismus 1

“Die Moderne bietet dem, der seiner gewiß ist und die gebotenen Chancen zu nutzen vermag, Voraussetzungen und Spielraum wie keine Epoche zuvor. Sie kann aber dem, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung oder Tröstung fragt, nach einer verwirrenden Fülle hinhaltender Zwischenbescheide am Ende nichts anderes bieten, als stets die Rückverweisung auf ihn selbst. … Sie setzt für die Entfaltung ihrer Möglichkeiten eben jene Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewißheit voraus, deren zuverlässige und breitenwirksame Ausbildung sie ohne Absicht fortwährend untergräbt.

Die Widersprüche zwischen den Verheißungen, die ihr geschichtliches Programm enthält, und den Zumutungen, die sie dem Einzelnen aufbürdet, leisten der verzweifelten Regression in Gewißheiten und Tröstungen Vorschub, für die Vernunft keine Gründe nennen kann. Die Versuchung zum fundamentalistischen Rückfall ist die andere Seite im Janusgesicht der Moderne. …

Fundamentalismus ist [die Flucht] … in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente. Vor ihnen soll dann wieder alles Fragen halt machen, damit sie absoluten Halt geben können, genauso wie vor ihnen wieder alles andere relativ werden soll, damit sie der Relativierung entzogen bleiben. Die Argumente, Zweifel, Interessen und Rechte desjenigen, der sich nicht auf ihren Boden stellt, sollen nicht mehr berücksichtigt werden. …

Kultureller Fundamentalismus ist die Flucht des einzelnen aus dem selbstverantworteten Lebensentwurf in die Hörigkeit geschlossener Kollektive. Intellektueller Fundamentalismus ist die Flucht aus dem offenen, unabschließbaren Diskurs in die unbegründbaren und grundlosen Geheimnisse seiner vermeintlichen Fundamente. Politischer Fundamentalismus ist Metapolitik, die aus einer absoluten Mehrheit von oben oder von innen her das Recht beansprucht, den Regeln der Demokratie, des politischen Relativismus, der Unantastbarkeit der Menschenrechte, den Gesetzen der Toleranz, des Pluralismus und der Irrtumsfähigkeit enthoben zu sein. …”

aus: Thomas Meyer: Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung. In: ders.: Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt(Main) 1989, S.17-22.

Abb.: Mounir Fatmi: Le paradoxe, 2013, im Internet.

04/92

08/10/2007 (10:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fünf vor zwölf

“In den Kolumnen der Szene hält sich hartnäckig die Wendung, es sei ‘5 vor zwölf’. Winfried Kretschmann, ein Grüner von der diesseitigen Sorte, ist der Ansicht, es sei eher erst ’12 vor fünf’. Ich neige zu der Auffassung, daß es ‘5 nach zehn’ ist. Aber vielleicht hat nur Joe die richtige Antwort gegeben, als er auf Sinatras Frage, wie spät es sei, antwortete: ‘Soviel du willst, Frank’.

Evolutionstheorie lehrt: exponentiell wachsende Systeme sind tendenziell instabil. Irgendwann müssen sie selbstregulativ Eigenkontrollen entwickeln, die diesen Wachstumsprozeß stoppen, andernfalls sind sie dem Untergang geweiht. Die Bevölkerung unserer Erde ist solch ein exponentiell wachsendes System. Wir kennen nur das Problem, aber nicht den Zeitpunkt, wann wir es lösen müssen.”

“Ein globales Ökosystem wie die Erde sollte man sich nicht als ein System vorstellen, dessen Subsysteme wie Bevölkerung, Rohstoffe usw. jeweils einen numerisch exakt prognostizierbaren Wert aufweisen, ab dem der Umschlag in die Instabilität beginnt. … [Der Schwellenwert] kann immer erst im nachhinein ermittelt werden.”

Jochen Reiche: Ökologie und Zivilisation. Der Mythos von den natürlichen Kreisläufen” In: “Die Linke neu denken”. Berlin: Wagenbach 1985, S.58/61.

08/10/2007 (10:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Friedensbewegung

“Hört ein Bürger unseres Staates das Wort ‘Frieden’, beginnt er zu gähnen. … Die Friedensbewegung wird [hier] präsentiert als ein Ausdruck der Tatsache, daß die Menschen im Westen den Kommunismus sowjetischer Prägung gar nicht mehr erwarten können. …

Die westliche Friedensbewegung hat realen Einfluß auf das Handeln der Parlamente und Regierungen. Und riskiert kein Gefänginis. Hier riskiert man Gefängnis. Und der Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung ist – jedenfalls in diesem Punkt – gleich Null. … [Der Osteuropäer] kann es noch nicht einmal erreichen, daß er mit Rücksicht auf die Zähne und Seelen der Kinder von Nord- nach Südböhmen umziehen darf; wie sollte er da so eine Sache beeinflussen können wie Sternenkriege zwischen zwei Supermächten! …

Zu den Gefahren, für die der hiesige Geist eine besonders empfindliche Nase hat, gehört auch … die Gefahr daß die lebendige Idee als Werk und Zeichen sinnvollen Menschseins zur Utopie als technischer Anleitung zur Vergewaltigung des Lebens und Vertiefung seines Schmerzes versteinert. … Wer beunruhigt uns hier mit einer Utopie? Welche nächsten Katastrophen werden uns hier – in bester Absicht – wieder vorbereitet? …

Wir fühlen hier irgendwie stärker …, daß der, der sich zu ernst nimmt, bald lächerlich wird, und wer ständig über sich selbst lachen kann, nicht wirklich lächerlich sein kann. … Das hiesige Mißtrauen gegenüber jedem Empathismus und jedem Engagement, das nicht der Distanz zu sich selber fähig ist, hat wohl auch Einfluß auf jene Zurückhaltung, die ich hier zu analysieren versuche. …

Es gibt selbstverständlich auch weitere Gründe für die Zurückhaltung … Die Tschechoslowaken haben zu gut am eigenen Schicksal erfahren … wohin eine Politik des Appeasement führen kann. … Die Grunderfahrung, daß es nicht möglich ist, schweigend Gewalt zu dulden, in der Hoffnung, daß sie von selbst aufhört, gilt noch immer. …

Für uns ist es einfach schon unverständlich, wie man noch an die Möglichkeit der Abrüstung glauben kann, die den Menschen umgeht oder sogar mit seiner Versklavung erkauft wird.”

Vaclav Havel: Anatomie einer Zurückhaltung. In: Am Anfang war das Wort. Reinbek: Rowohlt 1990 (geschrieben 1985)

09/92

08/10/2007 (10:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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